Ein modernes Märchen - Folge 1 (Aus den Tagebüchern Ferdinand Heinkes)

14.10.2010 à 07:13

Briefnotiz

Ich kam als Gast hierher ins westliche Fünftel, so wie alle anderen. Seitdem fällt mir jeder Austritt schwer. Wir haben es uns gemütlich gemacht. Schöne Gemälde hängen an den Wänden. Doch hinter ihnen, auch hinter allen Sesseln, Betten und Schränken wirkt fast unbemerkt die Zeit.
Sie haucht mit grausamer Leichtigkeit, als ob Nichts wäre, den Wänden Flächen ein. Ja, was ich dir erzählen will, geschieht eigentlich hinter den Bildern.

Erst müsste viel verschoben werden, um den Veränderungen ins Gesicht zu sehen. Die Spuren. Diese scheuen filigranen Spuren längst vergangener Spiele!

Sei's drum, du bist schön, Natalia!

Doch vor diesem Haus ist alles so wild bewachsen, so grob und rau, die Felsen, die Bäume so unfreundlich, das dunkle Gras der Steppe ist nicht schön. Es ist ungemütlich sage ich dir. Nichts heisst einen hier Willkommen.

Es gebe in der Umgebung sonst nicht viel Edles sagen viele der Älteren. Die Ältesten sagen, dass die Ersten am Anfang sich aus Nachbardörfern zusammengeschlossen hätten. Darüber müssten Schriften vorhanden sein. Jene, die darüber eine leise Ahnung haben, erzählen davon. Die Wissenden schweigen auf ihre Art.

Die grosse Holztür am Eingang klingt noch in meinem Ohr nach. Zu! – und seitdem nie wieder auf. Ich muss vergessen haben mit welchen Wünschen, Hoffnungen, mit welchem Willen ich hierher kam.

Falls du dich fragst, warum ich euch verlassen habe. Warum ich gegangen bin? Weil ich glaubte, alles verloren zu haben.

Doch ich fand hier etwas. Es ist nichts grosses, doch es ist gut und nimmt mich an, trägt mich. Das Wenige, das ich selbst hier her mitgebracht habe, ist nicht mehr das Selbe.

Und meine Kleider und Farben, mit denen ich ins Haus kam. Wer hat sie mir abgelegt?

~

Grüsse auch an Europa!


Sie ist die Frau mit der weiten Sicht, sorgt gut für unsere Kinder -

Einst wirst Du ihnen vielleicht antworten müssen.

In Liebe
Euer Ferdinand

Einführung http://www.students.ch/community/blog/post/45189/Ein-modernes-Maerchen-Seite-1?ref=blogpost-teaser-image

© U. Aydin Guenay, Zuerich