Volevo Solo Vivere
Christina Ruloff - Beeindruckend, erschütternd, schrecklich und wichtig: Neun italienische Holocaust-Überlebende erzählen und erinnern sich. Hunderte von Zeitzeugenberichten hat Regisseur Mimm Calopresti im Archiv der USC Shoah Foundation für visuelle Geschichte und Bildung visioniert und neun ...
Hunderte von Zeitzeugenberichten hat Regisseur Mimm Calopresti im Archiv der USC Shoah Foundation für visuelle Geschichte und Bildung visioniert und neun repräsentative und doch individuelle Geschichten ausgewählt: Andra Bucci, Esterina Calò Di Veroli, Nedo Fiano, Luciana Nissim Momigliano, Liliana Segre, Settimia Spizzichino, Giuliana Tedeschi, Shlomo Venezia und Arminio Wachsberger erzählen (gefilmt in ihrem jeweiligen Zuhause) wie sich ihr ganz normales, meist bürgerliches Leben mit dem Erlass der Rassengesetze verändert hat, wie sie zu fliehen versuchten, wie der Zufall, die Bosheit der Mitbürger oder Zöllner und die Angst eines Familienmitgliedes die Rettung verhinderte und wie sie schliesslich deportiert und von der Familie getrennt wurden. Am Ende steht die Befreiung durch die Alliierten.
Es gibt unendlich viele Dokumentationen und Auseinandersetzungen mit dem Holocaust, so „faszinierend“ ist das Thema. Meist stehen Auschwitz, dessen Name stellvertretend für die deutschen Vernichtungslager und das Unvorstellbare steht, und die Täter und Verbrecher (und ihre Psychologie) im Zentrum, wenn nicht gerade minutiös erläutert wird, wie es mit dem Zyklon B vonstatten ging. Die Opfer, das sind die anderen, die Toten, die Leichenberge, die als Resultat der ganzen Prozedur eingeblendet werden. Sie sind tot, in Massengräbern verscharrt, verschwunden und anonym; ihre Identität hat sich aufgelöst.
In der herausragenden Dokumentation von Mimm Calopresti stehen die Überlebenden und ihre Familien, ihre Geschichten, ihre Erinnerungen und ihr Leid, ihre Gefühle im Zentrum; einer erzählt ganz ruhig, wie wenn es sich um Ereignisse handle, die einem entfernten Bekannten zugestossen sind; eine andere beginnt unvermittelt zu weinen, ein dritter ringt mit der Fassung, dann dominiert wieder Unglauben und Fassungslosigkeit. So gelingt es – soweit dies irgendwie möglich ist – den abstrakten Holocaust als ein ungeheures Verbrechen an unseren Mitmenschen begreiflich zu machen: Wenn einer der Überlebenden erzählt, wie er seinen eigenen Cousin in die Gaskammer schicken und hinterher seine Leiche verbrennen musste, oder ein anderer sich erinnert, Dr. Mengele habe ihm unumwunden erklärt, dass seine Familie „den Schornstein hochgegangen“ sei – dann ist das Verbrechen wieder ganz unmittelbar und erschütternd und betrifft uns alle. Spätestens wenn man die Familienfotos der Ermordeten sieht (Töchter mit ihren Vätern in den Skiferien, Söhne mit ihren Grosseltern beim Sonntagsspaziergang) und dann ein Bild von dem Eingang in die Gaskammern eingeblendet, kann man sich kaum mehr auf dem Sessel halten. Der Schrecken ist direkt - und das ist gut so.
Volevo solo vivere läuft bei uns in den Kinos und man kann für diesen (mutigen) Entscheid dem Verleih Frenetic nur dankbar sein. Es ist zu hoffen, dass der Film nicht nur Sonntags zu obskuren Zeiten läuft, und dass ihn vor allem möglichst viele junge Menschen, Lehrer mit ihren Schülern, sehen. In einer Zeit, in der die Rufe laut werden, den Holocaust „jetzt endlich ad acta zu legen“ ist diese Dokumentation ein wichtiger und hervorragender Beitrag!
Bewertung: 4.5 von 5
- Titel: Volevo Solo Vivere
- Land: I / USA
- Regie: Mimmo Calopresti
- Ausführender Produzent: Steven Spielberg
- Verleih: Frenetic
- Release: 21. August 2008