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Das Buch der Tausend Leben

Das Buch der Tausend Leben

05.08.2010

Unser Leben gleicht einer Geschichte. Die Geburt ziert den Anfang, verschiedene Höhe- und Tiefpunkte bestimmen unser Leben, die Spannungsbögen führen uns von einem zum anderen. Und das Ende? Nun ja, das Ende ist meist der Tod. Doch wer schreibt unser... [mehr]
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Das Buch der Tausend Leben

05.08.2010 um 00:02

Unser Leben gleicht einer Geschichte. Die Geburt ziert den Anfang, verschiedene Höhe- und Tiefpunkte bestimmen unser Leben, die Spannungsbögen führen uns von einem zum anderen. Und das Ende? Nun ja, das Ende ist meist der Tod. Doch wer schreibt unsere Geschichte? Manche meinen, jeder schriebe seine eigene Geschichte. Durch unsere Handlungen, Entscheidungen, Erfahrungen und dergleichen – doch falsch gedacht. Es gibt ein Buch, das Buch der tausend Leben, in dem das Leben aller bestimmt und beeinflusst werden kann. Dieses Buch wird in einer Familie weitergegeben, dessen Stammbaum so weit zurückreicht, wie das Leben selbst.Angeblich wurde das Buch benutzt, um dem Menschen zu ermöglichen das Feuer zu nutzen und Waffen zu schmieden, die Pyramiden zu erbauen und selbst ihre erlebte Geschichte auf Papier zu schreiben. Wichtige Ereignisse, wie der Bau der chinesischen Mauer, der Aufstieg des römischen Reiches, die Kreuzzüge, die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, bis hin zur Schaffung des modernen Europas, sollen alle durch dieses Buch in die Wege geleitet worden sein. Aber auch kleine Geschichten werden damit geschrieben. Seien es kleine Romanzen oder die ersten Schritte eines Babys. Dem Schreiber des Buches ist es gestattet alles zu tun, alles geschehen zu lassen, solange er sich nicht selber übermässig bereichert – was in all den Jahrtausenden noch nicht geschehen war.So landete das Buch im Ende des Einundzwanzigsten Jahrhunderts in den Händen eines jungen Mannes, der sein ganzes Leben darauf vorbereitet wurde, einmal dieses Buch von seinem Vater zu übernehmen. Er lebt in einer Stadt namens Nebelheim, im Herzen Europas, wo er geboren und aufgewachsen ist. Er hat keine Geschwister und keine Freunde, denn niemand durfte von der Existenz dieses Buches erfahren. Denn wer dies tat, erlangte ein langes Leben und unerschöpfliche Macht, was in den Händen eines gewöhnlichen Menschen schrecklich Enden würde. Also übernahm der junge Mann, der den Namen Cloud trug, das Buch seines Vaters, worauf dieser sein Leben lassen musste – den nur einer durfte von der Existenz dieses Buches wissen und niemand den kennen, der darin schreibt.

So zogen die Jahre ins Land und Cloud reiste viel umher. Kaum ein Tag verging, ohne dass er die Stadt, wenn nicht gar das Land wechselte. Er trug unscheinbare Kleidung, je nachdem in welchem Land er sich gerade aufhielt. An Geld und Essen kam er problemlos, da er ja das Leben aller bestimmen konnte und so hatte er nie Probleme. Manchmal sprachen ihn junge Frauen im Zug oder auf der Strasse an, denn er war kein hässlicher Bursche. Er war schlank und mittelgross. Sein blondes Haar glatt, aber zerzaust, sein Blick sicher und dennoch verloren, sein Gang bestimmt und doch locker. Selten verzog er eine Miene und noch seltener sprach er ein Wort, so dass er manchmal vergass, wie seine eigene Stimme klang. Was seine Lippen nicht taten, übernahmen dafür seine Finger, in denen er die meiste Zeit über einen dünnen Stift mit einer alten Feder hielt. Er war gefüllt mit einer Tinte, die niemals kleckerte, noch ausging und für niemanden ausser ihm lesbar war. Denn er verbrachte die meiste Zeit damit Dinge hineinzuschreiben, die niemand ausser ihm zufällig lesen sollte.So war es auch an diesem Tag im Zug, der direkt von Tokyo nach Kioto fuhr. Er war leer, genauso wie Cloud es beabsichtigt hatte. Er hatte es in Kioto stürmen lassen und dafür in Tokyo ein Filmfestival steigen lassen, damit er ungestört im Zug war. Also setzte er sich in der Mitte des Wagons in eine Viererkabine ans Fenster und zückte das Buch. Der Umschlag war alt und aus Leder von einem Tier, das seit Uhrzeiten nicht mehr lebte. Die Seiten waren alle leer, denn alles was er schrieb, versank in den Blättern, sobald er eine Geschichte beendet hat und lässt sich daher auch nicht mehr ändern. Mit schneller Hand glitt er mit dem Stift über das Papier und schrieb eine weitere Geschichten, wie er bereits hunderte, tausende in seinem jungen Leben geschrieben hatte. Nach und nach verschwanden sie im weissen Papier und die Stunden im Zug vergingen.Die Sonne war dem Horizont bereits so nahe, dass er den Himmel in ein oranges Licht tauchte und bereits langsam hinter dem Horizont verschwand. Der Anblick war wunderschön anzusehen, doch Cloud war sehr vertieft in seine Arbeit. So vertieft, dass er nicht bemerkte, wie sich die Wagontüre vorne öffnete und eine Person hinein trat und sich wunderte, wieso hier niemand sass. Ängstlich sah sie sich um. Ihr schwarzes Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht, wo zwei mandelbraune Augen nervös hin und her glitten, bis sie einen jungen Mann erblickten, der in der Mitte des Wagons sass. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich über ihre Lippen aus und sie ging frohen Mutes auf ihn zu. Zuerst war sie verwundert, wieso er nicht aufsah. Schliesslich trug sie Absätze und die verursachten einen gewissen Lärm, doch dann sah sie, mit welcher Geschwindigkeit er in einem Buch schrieb und überlegte es sich, ob sie ihn tatsächlich ansprechen sollte. Doch da war es schon zu spät. Cloud sah auf und sah die Frau an, die hier in kurzem, blauen Rock und weisser Bluse dastand. Und obschon sie sich sicher war, dass seine Augen verwirrt waren, verzog er keine Miene. Noch bevor eine weitere peinliche Sekunde des Schweigens vorbei schleichen konnte, verbeugte sie sich leicht und fragte mit nervöser Stimme: „Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Cloud sah sie weiterhin schweigend an – doch dann nickte er leicht, worauf sie sich erleichtert setzte. „Mein Name ist Hina, ich danke Ihnen.“

Hina war 21 Jahre jung und stammte aus Kioto. Sie hatte das Wochenende in Higashioomi bei ihrem Vater verbracht. Nun war sie auf dem Rückweg zu ihrer Mutter. Sie hasste es alleine im Zug zu sitzen, weil in solchen Momenten die meisten Verbrechen an so jungen, hübschen Frauen, wie sie eine war, verübt wurden. Also war sie wie immer im frühabendlichen Zug eingestiegen, der eigentlich immer gut besetzt war. Doch als sie den leeren Zug vorfand, hatte sie schon gedacht, dass dies kein Zufall sein konnte. Doch nun war sie froh den jungen Mann getroffen zu haben, der aus dem Ausland zu kommen schien. Erst jetzt fiel ihr auf, weshalb er nur genickt hatte. „Vielleicht spricht er gar kein Japanisch?“ Sie war ein gesprächiger Mensch, deshalb wurde sie langsam unruhig, Cloud beim Schreiben zuzusehen. Dies ging einige Minuten weiter, bis es schliesslich aus ihr herausplatzte. „Sprechen Sie japanisch?“ Im Nachhinein fiel ihr ein, dass die Frage idiotisch gestellt worden war, doch zu ihrer Überraschung antwortete der junge Mann dialektfrei. „Ein wenig. Es reicht, um mich durch zu schlagen.“ Gerade als sie gehofft hatte, ein Gespräch begonnen zu haben, senkte Cloud den Kopf wieder und schrieb emsig weiter – dabei wirkten seine Augen und Hände zunehmend nervöser.Cloud mochte die Anwesenheit der jungen Frau nicht. Sie war zwar das, was man hübsch nannte, doch konnte er ihre aufdringliche Art nicht ausstehen. Also versuchte er sie los zu werden. Doch statt dass die Buchstaben im Papier verschwanden, begannen sie rot zu leuchten und lösten sich ohne den gewünschten Effekt einfach auf – das war ihm bisher noch nie passiert. Er überlegte fieberhaft nach, woran das liegen könnte. Deswegen antwortete er unwissentlich der jungen Frau und vergass dabei im Akzent zu sprechen. Das Buch verlieh einem nebenbei auch die Fähigkeit sich bei Bedarf in jeder Sprache und Akzent zu unterhalten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch darüber wollte er sich jetzt nicht aufregen, weshalb er sich wieder dem Buch zuwandte und die junge Frau wieder ignorierte. Es war mittlerweile nicht sie, die ihn störte, sondern die Tatsache, dass das Buch zum ersten Mal nicht tat, was es sollte. „Vielleicht war das ein selbstsüchtiger Gedanke“, überlegte er sich. Doch dann würde die Schrift verbleiben und sich nicht auflösen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.Sofort packte er seine Reisetasche und stand auf. Mit einem kurzen Sayonara verliess er das Abteil und ging durch den Wagon – er musste so schnell wie möglich aus dem Zug. Er wollte zwar nach Kioto, würde aber wohl oder übel auch mit Otsu, ein er Stadt am Meer, vorlieb nehmen. Keine zwei Minuten wartete er vor der Tür, bis de Zug schliesslich hielt und die Türe sich öffnete. Er warf keinen Blick zurück und wollte nur noch schnellstmöglich weg – jeden Augenblick konnte etwas passieren. Eine Erleichterung durchströmte ihn, als die Türen des Zuges sich hinter ihm schlossen und der Zug sich langsam entfernte. Vor ihm lag die Stadt Otsu, die direkt am Meer lag. Von der Haltestation aus konnte er direkt aufs Meer sehen, wo die Sonne nur noch als schmaler Strich am Horizont glomm und beinahe untergegangen war. „Sie haben etwas vergessen“, hörte er hinter sich die Stimme der jungen Frau. Angst breitete sich in ihm aus. Ruhig drehte er sich um und sah sie vor sich stehen, sein Ticket in der Hand haltend. „Hier steht sie wollten bis nach Kioto. Wieso steigen sie in Otsu aus?“ Cloud überlegte fieberhaft was er tun sollte. Da übertönte ein Knall in der Ferne all seine Gedanken. Der Zug war entgleist und in den an die Gleise grenzenden Wald gefallen, wo er rauchend liegen blieb. Hina sah erschrocken, wo sie geendet wäre, wäre sie dem jungen Mann nicht gefolgt – aber wieso war er ausgestiegen? Wusste er davon? War er letztendlich dafür verantwortlich? Sie wollte es wissen. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, spürte sie einen heftigen Schmerz in der Brust und im linken Arm Sie liess das Ticket fallen und fiel kraftlos nach vorne.Im letzten Moment machte Gabriel einen Schritt nach vorne und fing sie auf. Er heilt sein Buch immer noch in Händen, welches ungewöhnlich warm wurde. Er ging langsam in die Knie und während er die zitternde Frau in Armen hielt, öffnete er geschickt das Buch. Seine Augen weiteten sich, als er realisierte, was gerade geschah. Die Zeilen, zuvor noch rötlich, waren mittlerweile verschwunden, doch waren sie noch schwach leuchtend sichtbar. „Was geschieht hier?“, fragte er sich laut, da packte ihn die junge Frau verzweifelt am Kragen. Sie bewegte ihre Lippen, doch kein Ton kam mehr heraus. „Wer bist du?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Ein Mann mit braunem struppigem Haar stand da. Seinem Gesicht nach war er viel älter als Gabriel. Trotzdem trug er lockere Klamotten. Eine blaue Jeans, weisse Schuhe, ein weisses Hemd, das nur dürftig geschlossen war. Im Mundwinkel hing eine Zigarette, dessen aufsteigender Rauch Cloud in der Nase biss. Es war nicht seine Erscheinung die ihn überraschte. Es war merkwürdig, dass ihn überhaupt jemand wahrnahm. Und dass dies bereits zweimal am selben Tag geschehen war, war mehr als aussergewöhnlich. „Kennst du die Regeln nicht? Man spielt sich nicht gegenseitig aus.“ Cloud schloss das Buch und liess Hina sanft zu Boden. Sie atmete nur noch schwach und würde bald das Bewusstsein verlieren. Er erhob sich und drehte sich zu dem Mann um. Als er in dessen Augen sah, blickte er durch die Fassade, die der Mann offensichtlich aufgebaut hatte und sah das mächtige Wesen, das sich dahinter verbarg. „Tausende von Jahren kann man sich aus dem Weg gehen und dann, an einem unscheinbaren Tag laufen wir uns doch über den Weg.“Neben dem Buch der tausend Leben, existiert auch das Buch der tausend Tode. Denn alles schöne, dass auf der Welt geschah, durfte nicht ewig währen, oder zumindest nicht ohne Hindernisse bleiben. So geschah es, dass ein zweites Buch erschaffen wurde. Dieses ist dafür da, das Gleichgewicht zu halten. Im Gegensatz zum Buch der tausend Leben, war es in der Lage direkt Leben zu nehmen und auf brutale Art und Weise Eingriffe in das Leben der Menschen zu nehmen. So wie die grossartigen Dinge der Menschheit auf das andere Buch fielen, gehen Katastrophen wie Taifune, Seuchen, Kriege, Anschläge und dergleichen auf die Kappe dieses Buches. Beide Bücher konnten nebeneinander existieren und gegeneinander ausgespielt werden – solange sie dies nicht zur gleichen Zeit taten. Denn in dem Moment, als Cloud wollte, dass Hina den Zug verliess, wurde die Geschichte vom tragischen Tod einer jungen Frau geschrieben. Das war Cloud klar geworden, weswegen er den Zug tunlichst schnell verlassen wollte. Doch Hina war ihm gefolgt, weshalb sein Buch obsiegt hatte und sie dem Unfall überlebte. Dass sie aber nun trotzdem im Sterben lag, ging auf die Kappe des Mannes. „Wieso hast du das getan?“, fragte Cloud ihn in der Sprache, mit der er zuvor von ihm angesprochen worden war und sonst nirgends auf der Welt gesprochen wurde. „Du hast meinen Zug geleert, den ich hätte entgleisen lassen wollen“, sagte der Mann trotzig, „da dachte ich mir ich hole mir zumindest dieses Mädchen. Sag bloss nicht sie hat dir was bedeutet?“ Der Mann lachte und holte ein Buch hervor. Es war aus schwarzem Leder und sah abgenutzter aus, als das von Cloud.Irgendetwas in der Stimme des Mannes, liess Cloud aufständisch werden. Ohne lange nach zu denken holte er sein Buch hervor und begann zu schreiben. „Was tust du da?“, fragte der Mann, doch Cloud ignorierte ihn. In diesem Moment wurde das Buch des Mannes heisser, so dass er es vor Schreck fast fallengelassen hätte. Hina, die schon reglos auf dem Boden gelegen hatte, begann sich wieder zu rühren. Sie hustete und setzte sich auf. „Was ist passiert?“, fragte sie Cloud verwirrt, da erblickte sie den Mann, „und wer ist das?“ Aber der Mann ignorierte sie und sah Cloud wütend an. „Du kleiner Scheissbengel!“ Fluchend öffnete er sein Buch und begann ebenfalls zu schreiben. Es dauerte nicht lange, da begann die Erde zu beben. Risse bildeten sich und wurden grösser, bis sie schliesslich bis zu Hina reichten, die starr vor Angst sitzen blieb. Cloud war wieder die Ruhe selbst. Er selbst konnte nicht sterben, aber irgendetwas in ihm, wollte den Tod dieser Frau verhindern. Also begann er ebenfalls zu schreiben. Er spürte, wie schwer es wurde die Linien zu Papier zu bringen. Aber auch der Mann hatte zunehmend Probleme zu schreiben. Die Risse in der Erde wurden tiefer und tiefer. Wäre es so weitergegangen, wäre Hina sicherlich in die Tiefe gestürzt. Doch ohne es zu wollen erhob sie sich und sprang zur Seite – gerade noch rechtzeitig. „Soso, du willst spielen?“, schrie der Mann, „das kannst du haben.“

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