Herta Müller und Oskar Pastior schreiben einen Roman
15.01.2008 um 20:47
Herta Müller und Oskar Pastior schreiben einen RomanVon Ulrike Janssen und Norbert Wehr
Anfang 1945 wurden 80.000 Rumänien-Deutsche in Lager in den Kohlegebieten zwischen Dnjepropetrowsk und Donezk gebracht, um unter extremen Bedingungen Zwangsarbeit zu leisten. Die im Banat geborene Schriftstellerin Herta Müller begann 2001 mit Recherchen für einen Roman über diese Deportationen. Zunächst begann sie, ihre Mutter zu befragen, außerdem andere Deportierte, aber sie hatten keine Sprache für das, was sie erlebt hatten. Schließlich war der Dichter Oskar Pastior bereit, ihr Auskunft zu geben. Pastior, der aus Hermannstadt stammte, war ebenfalls deportiert worden und hatte fünf Jahre in den Lagern verbracht. Müller und Pastior trafen sich von da an regelmäßig zu gemeinsamer Arbeit. Dabei entstand ein Text über den Lageralltag, der aus Schuften und chronischem Hunger bestand. Ulrike Janssen und Norbert Wehr porträtieren ein außergewöhnliches Romanprojekt, an dem Herta Müller auch nach Oskar Pastiors Tod weiterarbeitet.
Verwendete Musik: Peter N. Gruber, „fis“. Extraplatte, doublebass records, Bestellnr. EX 458-2,LC 8202, Tr. 1: Zack Bumm.Peter N. Gruber, „Die schwarze Prinzessin“. Austre Mechana, doublebass records, Bestellnr. dbCD 0799-01 (ohne LC-Nr.), Tr. 4: Klagelied, Tr. 15: Baßgeschwader, Tr. 16: Floating Flageolettes.
Herta Müller: Naja, meine Mutter war auch fünf Jahre deportiert, wie Oskar Pastior auch ... und ich wollte immer schon darüber schreiben.Musik: Peter N. Gruber, Klagelied, 1. PhraseMüller: Ja, und dann hab ich halt versucht, zuerst mit jemandem darüber zu reden, mit einem Mann, der aus dem Dorf kommt, aus dem auch ich komme, weil meine Mutter nie darüber spricht.Musik weiter ...Müller: Und habe nach sechs oder sieben Malen gemerkt, daß ich nicht mehr weiterkomme.Musik weiter ...Müller: Das ist, „Deportation“, das ist ein Schlagwort. „Leiden“, „gelitten haben“, ist ein Schlagwort. Damit kann man in der Literatur nicht weiterkommen.Musik weiter ...Müller: Und dann war ich zufällig mit Oskar Pastior in Süditrol, für mehrere Tage, in Lana, und ich hatte irgendwie erzählt, daß Tannen sind die langweiligsten Bäume, weil sie immer grün sind und nix machen, und Oskar Pastior hat also sofort widersprochen, und dann kam irgendwie das auf das Lager zu sprechen, daß, er hätte sich im Lager zu Weihnachten, hätte er aus grünen Wollhandschuhen sich Tannenzweige gemacht ...Musik weiter ...Müller: ... an Draht geknotete grüne Wolle. Und ich glaube, durch diese Tannen sind wir auf dieses Thema gekommen.Musik weiter, darunter Kokerei-Geräusche: Wagen rollen ...Müller: Und dann hat Ernest Wichner Oskar Pastior gefragt, ob er mir über das Lager erzählen würde, weil ich mich nicht getraut habe zu fragen, weil ich dachte, er ist ein großer Autor, er ist doch nicht dazu da, um mir Material zu liefern.Musik und Geräusche weiter ...Müller: Und ... Er war sofort einverstanden, und wir haben eine Woche später angefangen zu arbeiten, er hat erzählt, und ich habe aufgeschrieben. Und dann, ich glaube, so nach einem Heft voll, hab ich den Eindruck gekriegt, langsam, das ist nicht mehr nur meine Geschichte, sondern das ist auch seine Geschichte.Musik und Geräusche weiter ...Müller: Und dann sind wir ja auch da hingefahren. Und dann war es völlig klar, daß wir das Buch zusammen schreiben. Und das haben wir dann gemacht. Solange Oskar Pastior ... gelebt hat ...Musik weiter ...Müller: Ich habe dann auch Oskar Pastior sehr ... sehr sehr gut kennengelernt durch diese Arbeit, und ... und er fehlt mir sehr. Und ich weiß, ich muß das jetzt irgendwie ... zuende bringen.
Musik Ende. Geräusche Kokerei. Musik: Gruber, Zackbumm, darüber:
Ulrike Janssen: Hungerengel.Über einen Gemeinschaftsroman von Herta Müller und Oskar PastiorEine Sendung von Ulrike Janssen und Norbert Wehr
Musik weiter, darüber:Oskar Pastior liest: „Du kannst ja nicht aus deinem eisen kren“: Du kannst ja nicht aus deinem eisen kren / und beißen in den augen, die du reiben tust / aus deiner haut kannst du nicht treiben / was du tränst / und heißt umsonst die zähne / außen / heißen flocken krähen / die dich umreißen aber kaum verstehen / daß du in ihren augen nicht / aus ihren augen reißen kannst / was eisen treibt zu tränen / die du reibst zu kren / weil diese beißen / wo du häutest / und mispeln heißen / wenn die späne raspelnMusik Ende.Müller: Oskar war total konventionell und total anarchisch. Das waren immer Ausbrüche, aber das andere ist intakt geblieben, auch so mit Heimat oder wie, das war alles, in diesem Zusammenhang, positiv besetzt. Und aus diesem Provinziellen hat er diese großartigen Sachen gemacht Aber das brauchte er auch als Substanz, um es aufzulösen. Er hat ja auch um sein Leben geschrieben. Das ist ja in fast allen Sachen drin, mal sichtbar, mal unsichtbar, aber er hat ja immer mit dieser Substanz gearbeitet, weil er keine Wahl hatte.Musik: Gruber, Baßgeschwader, sehr leise unter Sprecher, darüber summt eine Frauenstimme „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“.
Norbert Wehr: August 1944. Rumänien, während des Zweiten Weltkriegs Verbündeter Nazi-Deutschlands, wechselt die Front, um an der Seite der Sowjetunion und der Alliierten zu kämpfen. Im Kreml wird ein Plan entwickelt, die deutschsprachigen Minderheiten Rumäniens, Ungarns, Nordjugoslawiens und der Slowakei zur Zwangsarbeit in kriegszerstörte Industrieanlagen der Sowjetunion zu deportieren.Musik Ende.Müller: Das war dann im Januar 45, wurden dann die Listen erstellt, die rumänische Polizei und die Russen, also die sind immer zusammen gekommen und haben dann die Leute, wie man so schön gesagt hat, ausgehoben, abgeholt und die sind dann zuerst in Sammelstellen gebracht worden, und dann nach einigen Tagen in diesen Viehwaggons, im Januar, sind sie dann bis in den Don-Bas, in die Ukraine.Musik: Gruber, Baßgeschwader, darüber:Wehr: Etwa 80.000 Rumäniendeutsche, Männer zwischen 17 und 45, Frauen zwischen 18 und 30 Jahren, werden deportiert. Darunter auch Herta Müllers Mutter, die Großeltern und der Vater Ernest Wichners sowie der 17jährige Oskar Pastior.Musik Ende.Ernest Wichner: (blättert in Karten, zeigt:) Das ist die Ukraine, also ... Njepropetrowsk, da liegt Kiev, da ist Czernowic, also, da liegt Rumänien da drunter ... blättert weiter ... Das erste Lager war in Krowoirok, Kriwirik, ukrainisch, hier ...Müller: Ich glaube, die ersten Leute sind ja dann schon in den Viehwaggons gestorben, zum Teil erfroren, weil es war Januar, dann hat man also im Donbas, in diesem Kohlegebiet, hat man dann die Leute in diese Lager verteilt, und in diesem Donbas-Becken haben dann die Leute meistens in Kohlegruben und in den Industriegebiet dort gearbeitet.Wichner: Das also ist Njetropetrowsk, und das zweite Lager, in dem Oskar dann war, ist hier, Gorlivka oder Gorlovka, hier ...Müller: ... wußten also nie, wie lange sie bleiben, und durften sich auch nicht zuhause melden, die ersten 2 Jahre haben die von Zuhause gedacht, die gibt es gar nicht mehr ...Wichner: Hermannstadt ist dann, ja, hier so, ja, das sind 2000 Kilometer, würd’ ich mal sagen.Müller: Und irgendwann nach fünf Jahren, genauso unangekündigt wurden die Leute dann wieder in Waggons, wußten auch nicht, was passiert, und dann wurden sie zurück nach Hause geschickt.
Musik: Gruber, Zackbumm, darüber:
Pastior liest: Kopfkissen 1. Sieben Jahre nach meiner Heimkehr fing ich an, meine Hefte zu schreiben. Alle sieben Jahre, sagt man, sind am Menschen alle Zellen komplett ausgetauscht. Ich hab mich getragen sieben Jahr und trag mich nicht länger mehr. Das kann man auch singen. Nur denken nicht: Jetzt bin ich neu. Auch die Woche hat’s mit Sieben. Mein Sonntag war gut zwei Jahre lang ein Donnerstag gewesen. Beim langen Wechsel ging er bis in den Freitag. Aber Samstag war dann wieder Montag. Und Sonntag halt ein Wochentag, an dem die So-Mo-Di-Mi-Do-Fr-Sa-Menschen im Lager wirklich einen Sonntag hatten und frei, und den Kopf auf dem Kissen, und uns Schichtmenschen gar nicht beneideten. Dabei wußten auch sie auf dem Kopfkissen nicht, ob die Woche Sonntags beginnt oder Sonntags aufhört. Natürlich weiß auch ich sieben Jahre nachher, daß Heimkehr Befreiung ist, weil ich das Wort kenne und das Wort kennt mich. Und wenn es mich heimsucht, sagt es seither: „einwandfrei freigekommen“, und es sagt auch „vogelfrei freigekommen“ und, „sorgenfrei freigekommen“. Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen.
Musik kurz weiter, dann Ende.
Müller: Ich habe schon immer als Kind gemerkt, daß meine Mutter schwer an etwas schleppte, auch wenn ich nicht wußte, was das ist, ich habe die Inhalte nicht verstanden. Aber ich habe verstanden, daß das etwas ist, was sie bedrückt. Wenn es dann so ging um das Frieren oder Hunger, Essen, also daß ich, wenn ich nicht gegessen habe, immer diese Vorwürfe, oder diese Komplizenschaft mit der Kartoffel. Ich wollte nie allein mit meiner Mutter essen, weil sie diese Gier hatte, und weil ich immer irgendwie, war mir das immer unheimlich.Frauenstimme summt „Mamatschi“, dann Musik: Gruber, Floating Flageolettes, 1. Phrase.Müller: Sie war halt gezeichnet davon. Und das war halt so ein kollektives Erlebnis im ganzen Dorf, jeder hatte irgendjemanden, der nicht mehr lebte, der verhungert war.Musik weiter ...Und ich heiße ja auch Herta, weil die Freundin von ihr gestorben ist. Und die hieß so und dann hat sie mir diesen Namen ja gegeben. Die ist im Lager gestorben.Musik weiter ...Ja, und dann hab ich halt angefangen, darüber nachzudenken, was bedeutet „beschädigt“. Was macht man mit so einem Wort – „Trauma“, wenn jemand ein Trauma hat, ja, was fragst du denn dann noch? Und dann habe ich gedacht, es sagt mir keiner, was hat er gelitten, wie hat es ausgesehen, was verfolgt ihn, wie sieht das aus, wenn man eine Erfahrung nicht mehr los wird. Und das war der Grund, weil ich gesagt hab, man müßte von diesem Gesichtspunkt aus die Sachen beschreiben, also daß es wieder in die eigentlichen Details hineingeht, wie sie gelebt worden sind, wie sie entstanden sind.Musik weiter ...Da war ich dann mehrere Male, bei einem Mann, der mit meinen Eltern befreundet war, aber das war auch immer nur: Was haben wir durchgemacht, was haben wir gelitten – es kam nichts. Also der konnte über sich überhaupt nicht reden. Diese Leute, wie meine Mutter und diese Generation, die haben auch gar nicht gelernt, über sich selber zu reden, und über Gefühle und über das Persönliche spricht man nicht. Also, wenn man das nicht gelernt hat oder wenn man das nie durfte sollte wollte konnte, dann kann man das einfach nicht.Musik weiter ...Ja, und dann habe ich den Oskar getroffen, in Lana, und ich sehe uns noch, wir sind dann in Lana herumgegangen, und wir haben eigentlich ... die ganze Zeit hat Oskar über das Lager gesprochen. Da fiel auch schon der Hungerengel und – das waren alles Dinge, wo ich nur ... also immer immer erstaunter zugehört habe.
Geräusch rollende Wagen, Musik: Gruber, Zackbumm, darüber:
Pastior liest: Hungerengel 2, 1. Teil: Hungerengel II. – Wenn er kommt, dann kommt er stark. Die Klarheit ist groß: 1 Schaufelhub wird 1 Gramm Brot. Das kausale Prinzip ist das Machwerk des Hungerengels. Schaufelnmüssen und nicht können ist das eine. Schaufelnwollen und nicht können ist die zweifache Verzweiflung, der Knick wie der Knicks vor der Kohle. Der nackte Zweitakt. Er greift sich in den Puls – eine Meute Klaxons. Im süßen Gaumen schwillt das Zäpfchen. Delirium, und was für eins. In der Luft die weißgedeckten Tische, und der Schotter knirscht, und die Sonne scheint hell mitten durch die Zirbeldrüse. Offenen Hungers geht der Engel zum Abfallhaufen hinter der Kantine. Süß und glasig, die gefrorenen Kartoffelschalen. Der Hungerengel sucht Spuren, die nicht zu löschen sind und löscht Spuren, die nicht zu halten sind.
Musik und Geräusche kurz weiter, dann Ende.
Müller: Es hat mich einfach sehr überrascht, wie er sich an all diese Dinge erinnert, und daß es einfach nur aus Details besteht und daß da keine allgemeinen Behauptungen sind, sondern ... und auch Verliebtsein in die Deportation. Also auch dieses Zweischneidige, er sagt auch: „Das Lager hat mich sozialisiert“, und dazu stehen, und trotzdem nicht beschönigen. Und diese Duplizität, das kam alles, sehr schnell kam das alles zutage.
Geräusche Kokerei, Musik weiter, dann darüber:
Pastior liest: Von den Schätzen. Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich. Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch. Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen niemals stehen wird: Weißt du noch, sondern: Da war ich. Dies sagte Tur, als ich ihn neulich beim Rasierer traf. Da war ich schon vier Tage nicht rasiert. Und er mit seinem Weißtdunoch, als ob ich es im Unterschied zu ihm, der sich die Nägel schneiden läßt, nicht wüßte. Er stammt aus dem Dreiländereck und redet immer klug. Er ist ein Adjutant der Lagerleitung und teilt uns ein auf dem Papier und war noch nie in der Fabrik. Im Spiegel steht er hinter mir und fragt: Wie ist es denn bei euch im Keller? Gemütlich, sag ich, jede Schicht ist ein Kunstwerk. Er nickt und hat keine Ahnung, daß es stimmt. Wir sind zu zweit, die Kellerleute. Wir sind Podwalschiki, zwei Schichtasseln unter den Dampfkesseln. Da sagt der erste: Ich fahre drei Wagen, dann fährst du drei. Da sagt der zweite: Und dann putz ich den Berg und du gehst kotschaien. Der erste sagt: Wir werden auch eine Stunde schlafen auf dem Brett unterm Siebener, dort ist es dunkel und ruhig. Der zweite sagt: Wenn nun der Neuner voll ist, werd ich gehen und stoßen. Der erste sagt: Ich bringe das Seil und die Winde ist alt und die Birne kaputt. Da sagt der andere: Ich fahre hoch und du gehst kotschaien, der Bunker ist voll. Das sagt der erste: Wir wollen rein übergeben. Ich war zur Hälfte rasiert und im Spiegel stand Tur und fragte: Weißt du noch, wie deine Mütze aussah, wie ihr die Gedärme aus allen Löchern hingen? Und ich sagte: Ja, und der Staub drauf war schwarz und feucht, pelzig und fingerdick. Aber der Keller war rein, denn jede Schicht ist ein Kunstwerk.
Musik weiter, dann Ende.
Wehr: Berlin, 2002. Herta Müller, Autorin von Romanen und Essays, die ihre Erfahrungen im rumänischen Kommunismus umkreisen, und Oskar Pastior, der fünfundzwanzig Jahre ältere Lyriker, beginnen mit der gemeinsamen Arbeit an dem Roman. Ernest Wichner, Freund und Herausgeber der Werke Pastiors, beobachtet die Arbeit aus der Nähe.Müller: Und dann haben wir uns jeden Montag getroffen, und ich habe mitgeschrieben und er hat erzählt. Oder wir haben auch angefangen, zu erfinden ... Packen, Kofferpacken, sagte er, das und das und das aufgezählt, sag’ ich, und wie ist es denn mit den Unterhosen, sagt er, ach, ich glaube, ich hatte nur die, die ich anhatte, aber schreiben wir „drei“, sag’ ich, nee, mein Junge, hier wird nicht gelogen, im Problem der Unterhosen, sag’ ich, gut, drei, aber dann sind es nur kurze, nicht lange, und so haben wir uns auch wirklich amüsiert ... Und Oskar hat dann immer gesagt, flunkern wir jetzt wieder? Und da kam plötzlich, hab’ ich gesagt, Oskar, weißt du was, wir schreiben das zusammen! Wir schreiben das zusammen! Du siehst, was da passiert, das ist nicht mehr mehr mein ... das ... du bist ja Autor, du schreibst ja mit!Musik: Gruber, Klagelied, 1. Phrase.Wichner: Sie kam ja dahin mit dem Wunsch, Realien zu kriegen, um halt einen Roman schreiben zu können, über dieses Deportationsgeschehen mit fiktiven Personen und im Gespräch mit ihm verwandelte sich das so, daß es sein biographischer Roman werden sollte, also war dann das Bedürfnis bei ihm ganz stark, daß es nicht nur einen Text gibt, sondern daß es auch sein Text ist, daß er sich da wiedererkennt ... Also so stark war sein Bedürfnis, da vorzukommen und das irgendwo abladen zu können und das irgendwo verzeichnet zu wissen, daß er in vielen Fällen, wenn sie dann richtig Text produzierten, und nicht bloß Notizen, sondern wenn sie Literatur machten, in vielen Fällen darauf bestanden hat, es war aber so und nicht anders. Und dann wurde es eben ein Buch, wo sozusagen die Figur im Hintergrund dieses Geschehens einfach Oskar ist.Musik weiter ...Müller: Ja. Da ist auch eine ganz andere Wahrnehmung schon während des Erlebens gewesen. Und er hat auch in Kategorien wahrgenommen, in sehr sinnlichen, wahrscheinlich hat er auch Dinge wahrgenommen, während des Erlebens, die meine Mutter nicht gemacht hat. Stell ich mir vor. Weiß nicht.
Musik: Gruber, Zackbumm, Kokerei-Geräusche, darüber:
Pastior liest: Hungerengel 2, 3. Teil: Der Hungerengel kennt seine Komplizen. Er hätschelt sie und läßt sie fallen. Dann zerbrechen sie. Und er mit ihnen. Er ist aus dem gleichen Fleisch, das er betrügt. Auch das ist sein Hebelgesetz. Im Prinzip. Alles Einfache ist reines Resultat. Und es ist nichts da, was sich nicht einfügen ließe. Zu viel dreht sich im Kreis: Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, kennt seine Grenzen, weiß seine Herkunft und seine Wirkung, geht offenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, wirft mit der Kette, ist ekelhaft persönlich. Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse und Heimweh, hat Wasser im Bauch und in den Beinen. Mehr als Aufzählen kann man nicht. Du meinst, es sei nur halb so schlimm. Aus dir spricht der Hungerengel. Der Hungerengel wohnt im Schädel des Hungerengels. So ist der Ring geschlossen. Der Hunger ist kein Gegenstand.
Musik und Geräusche kurz weiter, dann Ende.
Blättergeräusche ... Müller: Naja, da hat Oskar dann immer gezeichnet, ne? ... Ja, und dann beschrieben, was wo war, aber ich hatte ja nix gesehen ... Also hat er das aufgezeichnet, und ich hab’s dann beschrieben, weil er mir erzählt hat, wo was war, dann ... Schlafsaal von oben, zum Beispiel, oder ... was ist das, ja ... Kistenmaße, als er als Kistennagler gearbeitet hat ... Hand mit Nägeln, also wie man, daß man die Nägel schnell in die Kiste klopft, wie man die, ja, wie Klavierspielen, aber immer den nächsten Nagel schon vor den Daumen schieben, damit das je weniger Zeit in Anspruch nimmt. Oder seine Mütze: wie er sich die Mütze genäht hat, und dann diese Mütze von oben, und wie er sich die zugeschnitten hat, und ... Lager 2. Na, dann hat er mir die Fabrik aufgezeichnet. Verwaltung, dann das Bad, Garagen, also, Pekta, dann – Zeppelin. So ein dickes Rohr, so ein Mannesmannrohr, sagte er, und dieses Rohr, das sei das Bordell gewesen, also da wären die Frauen, meistens mit den deutschen Kriegsgefangenen, die auch auf dem Gelände der Fabrik gearbeitet haben, hätten sich in diesem Rohr getroffen, vorne und hinten war zugehängt, und da hätte man dann vorne mit einem Stock und einem Taschentuch die Zeichen gemacht, wann es besetzt ist und wann nicht, und es mußte natürlich immer jemand in der Nähe sein, das durfte natürlich alles nur während der Arbeitszeit passieren, wenn jemand gerade mal so verschwinden konnte aus der Brigade, daß der Brigadechef das entweder nicht gemerkt hat oder er hat es stillschweigend hingenommen ... Und ja, das war die erste Phase.
Musik: Gruber, Floating Flageolettes, darüber:
Pastior liest: Kopfkissen 2:Das erste Kapitel in meinem Heft hieß: „Vorwort“. Es fing aus freien Stücken mit dem Satz an: „Wirst du mich verstehen, Fragezeichen.“ Und es folgte der Name einer Frau Bea, eines Mannes Tur, eines Kohlebahnhofs Jasinowataja. Und es ging über sieben Seiten und hörte auf mit dem Satz: „Neulich in der Früh nach dem Waschen löste sich ein Tropfen aus meinen Haaren, und der lief mir langsam seitlich der Nase bis in den Mund. Es schneite im Bad. Die Lokomotive tutete. Im Spiegel war der Bahnhof aus Schnee und ich fuhr hindurch im Schlitten. Und dann hab ich das Vorwort verlängert, drei Hefte lang. Dann hab ich „Vorwort“ durchgestrichen und „Nachwort“ darüber geschrieben. Es war das große innere Fiasko, daß ich jetzt zu Hause bin. Aus dem freien Lager unabänderlich daheim, wo es im Bad schneit und ich im Ehwieso-Sowieso durch die Zellerneuerung hindurch im Schlitten fahre.“
Musik weiter, dann Ende.
Wehr: Rumänien, 1957. Oskar Pastior beginnt mit Aufzeichnungen zu einem Roman über die Deportation, ein Vorhaben, das er jedoch aufgibt. 50 Jahre später werden diese Notizen zu einer wichtigen Quelle für die gemeinsame Arbeit.Blättergeräusche ...Müller: Naja, und das sind die Hefte ... 57, die liegen da, schau mal, das sind diese drei Hefte, ich habe ja die Sachen aus Marbach noch da ...Zuerst hat er ja garnix gesagt ... Und da hat er zum Beispiel: Vorwort, und das haben wir dann gemacht, er hat sieben Seiten Vorwort geschrieben und nachher „Nachwort“ drübergeschrieben, aber das haben wir erfunden, das stimmt nicht, aber er hat es ... Hier hat er immer „Von den Freuden des Borgens“, „Von den Schätzen“, diese Dinge haben wir übernommen, und das hat Oskar dann auch vorgelesen ... (Blättern) ... Ich kann gar nicht so gut Oskars Schrift lesen, Oskar hat immer gelesen ... (Müller liest aus dem Heft:) „Doch du, Oktavio, ich weiß es, sonst schriebe ich dieses nicht für dich, den ich gar nicht kenne, nur... Der ich dir in deiner Einfalt so nahe bin und ... (Blättern) ... derart niemals wie du sein kannst, doch, wie gesagt, Oktavio, auf unsere Beziehungen kommt es nicht an, du bist eine meiner Realitäten, denn du bist nicht in meiner Gegenwart“ ... Das hat Oskar mir nie vorgelesen ... (Lachen) ... Denn die Hefte hab’ ich nicht gehabt, die Hefte hat Oskar nicht aus der Hand gegeben. Also, da hat er mir nur vorgelesen, ich hab’ das in die Hefte geschrieben, die Titel haben wir sehr viele übernommen, auch von den Realitäten, „Du bist eine meiner Realitäten“, „Von den Realitäten“, „Von den Schlacken“, „Von den Händen“, „Von den Rechtfertigungen“, aber ... diese Hefte hätte Oskar nie aus der Hand gegeben.Musik: Gruber, Floating Flageolettes, darüber:Müller liest: Zementsackpapier 1. und 4. Abschnitt:Vom Zement und Zementsackpapier. Zement reichte nie, er wurde von selbst weniger. Schlackoblocksteine, Sand, Schotter gab es genug. Aber der Zement ging immer aus. Zement konnte zum Alptraum werden. Es hieß: Zement muß man sparen, auf Zement muß man aufpassen. Und wenn’s regnete: Zement darf nicht naß werden. Und wenn der Wind ging: Zement darf nicht wegfliegen. Die Zementsäcke reißen leicht, und mit einem zerrissenen Sack konnte man nicht mehr sparen. Und in einem feucht gelagerten Sack klebte die Hälfte am Papier. Und aus einem trocken gelagerten Sack lief die Hälfte auf den Boden. Man kann es nicht anders. Je mehr man Zement spart, umso mehr klebt alles voll Zement. Nur die Angst ist schneller als Zement und vielleicht auch die Sprache. Nur so kann ich mir erklären, daß ich mir einmal auf ein Stück Zementsackpapier schnell notieren mußte: Tief und schief und rötlich lauernd hängt der halbe Mond am Himmel, schon im Untergehen. Mehr schrieb ich nicht, denn Zement muß man sparen.
Musik kurz weiter, dann Ende.
Wehr: Sommer 2004. 60 Jahre nach der Deportation reisen Herta Müller und Oskar Pastior in Begleitung von Ernest Wichner in die Ukraine, um die ehemaligen Arbeitslager aufzusuchen. Kurz danach berichten sie auf einer Veranstaltung von dieser Reise.Kokerei-Geräusche, darüber:Wichner: Am Anfang hatte er ja seinen Roman oder ein romanartiges Ding und hat draus vorgelesen und Herta hat sich Notizen gemacht und hat dann an irgendeiner Stelle gesagt: Stop, wie war das, genauer ... Und so hat sie alle Einzelheiten aus ihm erfragt, und hat dann irgendwann festgestellt, daß Oskar eine Landschaftskonstruktion im Kopf hat, und Bilder, Sprachbilder, Metaphern sich gebildet hatte, um die Landschaft zu beschreiben, aber die waren für sie nicht entschlüsselbar, sie wußte nicht, was der konkrete Hintergrund dieser Bilder ist, und Oskar konnte das auch in manchen Fällen nicht beschreiben und nicht auflösen.Müller: Er hatte das Konkrete, das Konkrete ist in sehr vielen Fällen die Substanz. Aber das Konkrete kann auch ein Riegel sein für etwas. Das ist ja immer etwas anderes, wenn jemand das erlebt hat und meint, das ist ja so, er weiß es ja. Also er hat es im Körper. Er hat es im Körper und er hat es im Kopf.Wichner: In dieser zweiten Fabrik, die eine große koks-chemische Fabrik war, wenn dann Koks gebrannt wurde und die Koksbatterien geöffnet wurden, dann gab es einen großen Lichtschein, das geschah meistens in der Nacht, und dann stand er am Lagerfenster und hat seine Skyline betrachtet. Und er hat sich diese kaputte Fabrik als Skyline einer Großstadt angeschaut, einfach um nicht ständig präsent zu haben, daß er ein deportierter Arbeitssklave ist, sondern er steht an einem Fenster in einem teuren Hotel und schaut auf die Skyline von Manhattan oder so.Müller: Ja, es hat sich als Notwendigkeit einfach gezeigt, ich glaube, auch für den Oskar. Wenn er mir erzählte, Batterien. Sag’ ich, ja, was ist das, wie sind Batterien? Ja, so nebeineinander und so, und mit Schamottsteinen innen. Oder da geht eine schiefe Ebene und da ist, das ist genau das Problem, er sieht es, indem er es erzählt, ich sehe nichts. Ich hab’ mir das oft nicht vorstellen können, und das hat Oskar ja auch gemerkt, daß ich mir’s nicht vorstellen kann. Und dann, irgendwann, haben wir mal gesagt, eigentlich müßten wir mal da hinfahren. Ja, machen wir das. Und dann, so ist das gekommen. Und der Ernest ist mit uns gekommen, denn seine Großeltern und sein Vater waren ja auch deportiert, und dann haben wir das gemacht.
Musik: Gruber, Zackbumm, dann Geräusch Diaprojektor.
Pastior: Ja, das ist die Uhr ... Als wir aufbrachen, zu dritt, hatten wir nichts anderes organisatorisch vorbereitet als drei Wörter, genauer gesagt, drei Namen im Kopf, die wir mitbrachten, das waren Ortsnamen, das war der Name Kriwoirok, das war der Name Gorlowka, und das war Koksokim Sawot, Kokerei, Koksfabrik, Kokswerk, denn in beiden Städten war unser Lager einer solchen Kokerei zur Verfügung gestellt. Mit diesen drei Wörtern aber, und inzwischen gedruckten Straßenkarten in der Ukraine, haben wir es geschafft, auf Anhieb eigentlich geschafft, diese beiden Lager zu finden. Wir waren in Njepropetrowsk, hatten wir uns zunächst in einem Hotel einquartiert und dann fuhren wir mit dem Auto los, und wir kamen dann auf dieser Chaussee entlang und plötzlich sagte ich, so, und jetzt nach rechts, und dann scharf nach links, denn ich hatte diese Uhr gesehen, diese elektrische Uhr ... An die hatte ich 60 Jahre lang nicht gedacht, als ich sie aber plötzlich sah, wußte ich, das ist es, da waren wir doch täglich an der vorbeigegangen.Musik weiter, Geräusch Diaprojektor.Pastior: Ja, das war, am ersten Tag, als wir ankamen, Januar 45, mit minus fünfzehn Grad, wurden wir hinausgeschickt, man hatte eigentlich keine Arbeit für uns, dann hat man gesagt, beschäftigen wir die Leute mit Löchergraben zum Bäumepflanzen im Frühjahr. Und da haben wir mit Brechstangen da eben, Stein und Bein ge-, ein paar Löcher gegraben, zwanzig Zentimeter an einem Tag. Jetzt sind die Bäume also ... inzwischen sind sie so dick. 60 Jahre. Schwarzpappeln, also die wachsen schnell.Musik weiter, Geräusch Diaprojektor.Pastior: Das war dann linkerhand die Badeeinrichtung, wo dann für uns speziell die Entlausung auch funktioniert hat, einmal die Woche ... Mit den gesamten Kleidern hin, nackt ausgezogen, die Kleider in die Entlausung und sich selber dann anderswo daneben gewaschen, aber die Kleider mußten dann dort eine Stunde braten ... Nach zweimal sind sie zerfallen, sie haben ja auch wie verbrannt gerochen ...Musik weiter, darüber:Müller: Ich hab die ganze Zeit gedacht, vielleicht wird er depressiv oder er stürzt ab. Was macht man, wenn ein Mensch dorthin kommt, und das Ganze bricht wieder aus, und er bricht uns zusammen? Und es ist ja genau das Gegenteil eingetreten. Also Oskar war ... wurde euphorisch und hat diese Zeit wirklich wiedererlebt, und er hat eine Art Heimatgefühl gekriegt, als wir da waren.Wichner: Es war die reine Freude, das wiederzusehen. Also, davor zu stehen, das zu sehen, erklären zu können, da unten, das ist die Tür, da ging’s in meinen Keller, wo ich da diese Loren beladen hab’ und so, da hat er sich kindlich gefreut, daß er vor dieser Tür steht, daß es den Ort noch gibt, daß er uns zeigen kann, hier ging’s runter.Müller: Und er hat auch immer gesagt, „unser Werk“ und „mein Kühlturm“. Er fand es entsetzlich, daß das Werk jetzt wieder kaputt ist, weil – er hat es ja aufgebaut. Und das war also wieder umsonst. Als der weg ist, war alles wieder intakt. Es war aus einer Ruine wieder eine Fabrik. Und jetzt fährt er wieder hin, nach 60 Jahren, jetzt ist es wieder Ruine. Und dadurch hat es ihn aber auch, durch die Ähnlichkeit von dieser Ruine nach 45 und heute war wahrscheinlich die große Nähe auch wieder da.Musik weiter, Geräusch Diaprojektor.Pastior: Ja, dieses ist das Fundament des Kühlturmes, so sah es aus, als wir ankamen, und nach einem Jahr war dann dieser Kühlturm darüber dreimal so hoch wie dieses Fundament, so ein Parabolturm aus Holz, wo dann alle Viertelstunden die weiße Wolke herauskam oben, das war ein wunderschönes Schauspiel, vom Lager aus gesehen, wenn da die weiß ... die beiden Batterien, hat dann das Glöckchen geklingelt, und dann, nach drei Minuten, kam die weiße Wolke aus dem Kühlturm ...Musik weiter, darüber:Müller: Er hat am allerersten Abend, als wir dort waren, gesagt, abends, als wir irgendwohin zum Essen gegangen sind, hat er gesagt: Ich habe meine Seele gefüttert. Und ... mir hat es fast den Atem zugeschnürt, als er das gesagt hat. Und das war wahrscheinlich das Allerkonkreteste, was er über seinen Zustand sagen konnte, weil – so wird es gewesen sein.Musik weiter, Geräusch Diaprojektor.Pastior: Ja, und dies ist die Tür zum Keller, wo ich die letzten drei Jahre dann gearbeitet hab. Wo dann die verbrannte Schlacke aus der Dampfkesselanlage unten von uns in Waggonetteln aufgefangen wurde und dann hier, rechter Hand, eine schiefe Ebene hochgefahren ... acht Stunden.Musik weiter, Geräusch Diaprojektor.Pastior: An diesem Gebäudeeck standen wir zum Essen an, das ist jetzt nachgestellt, der Napf fehlt. Ja, und beim Fenster, dort, wurde dann mit der Kelle ausgeschöpft, dahinter war die Küche.Musik weiter, darüber:Müller: Da mußte man sich in die Schlange stellen und durch das Fenster wurde dann das Essen gereicht, und das war ja für ihn auch immer das Problem, ob man sich ganz vorne hinstellt oder hinten hinstellt, denn er meinte immer, hinten ist es besser, weil dann das Dicke noch im Topf ist, unten lagen halt die Ingredienzien herum, und von oben hat man halt immer heruntergeholt, aber es gab auch oft die Situation, daß die Suppe nicht gereicht hat, und dann war es natürlich ganz schlimm, und wenn man diesen Hunger hat und man weiß, verdammt nochmal, jetzt habe ich mich zu weit nach hinten gestellt, weil ich wollte, daß ich das Dicke aus dem Topf kriege und dann war aber gar nichts mehr, das war natürlich schlimm.Wichner: Wenn wir dann irgendwo eine Pause machten, dann mußte er essen, und zwar hemmungslos, und wir wußten ja, daß er Diabetiker ist, er hat alles in sich hineingestopft, was fett war, was süß war ...Müller: Oskar hat so viel bestellt, daß man ... der Tisch war voll, und der hat das auch gegessen. Und er hat gesagt: Ich möchte dem Essen die Ehre erweisen ... (Lachen) ... Er hat so Sachen gesagt.Wichner: Ja, da kam die Hungererfahrung von vor sechzig Jahren, und der muß die Phantasie gehabt haben, er verhungert.Müller: Da kamen die Dinge alle wieder, er hat sich für etwas entschädigt, was damals nicht gegangen ist.Musik kurz weiter, dann Ende.
Müller: Oskar hat ein ganzes Leben lang mit diesem Thema gearbeitet. Auf seine eigene Art. Aber es ist halt durch diese Gebrochenheit, durch diese eigene Sprache, durch das eigene Arrangement der Welt, und das hat Oskar ja auch gesagt, ohne das Lager hätte er diese Texte, diese Sprache ... es ist ihm zerbrochen. Und den Rückgriff konnte er ja erst machen, als er hier im Westen war. Denn dann kam er in die nächste Unfreiheit. Vom Lager frisch, ja, vogelfrei frei, oder? Frei gekommen, aber dann 50er Jahre. Es war finsterer Stalinismus, ne? Und dann hat er noch eine Weile fünfjambige und sechssporige Oden geschrieben und irgendwelche konventionellen Sachen, und als das möglich war, hat er das ja, das Porzellan zerschmissen. Das Heimatservice kaputtgemacht. Kam er in den Westen, hat er das Heimatservice zerbrochen. Und eins, ein anderes aufgebaut. Und er hat ja auch aus der Verzweiflung gearbeitet, und das hat ihm ja immer wehgetan, wenn die Leute meinten, er spielt, und das kam ja immer wieder in allen möglichen Besprechungen, hat er ja schon wieder so schön gespielt, und das Spiel mit der Sprache, und, das hat ihn immer sehr verletzt ... Er war ein Verzweifelter, er hat ja auch um sein Leben geschrieben.
Musik: Gruber, Floating Flageolettes, darüber:
Pastior liest: Am Rande, denkst du:Am Rande, denkst du, denkst du Sätze, die dich denk- / ken. Du denkst, sie denken dich. In deinen Sätzen / bist du an ihrem Rand. Du bist eine Anrandung von // Sätzen, die dich an den Rand stpßen, Gegensätzen, / und auch an denen wandelst du entlang, Sätze, die / dich gegensätzlich denken, wandeln dich an und den- // ken Gegensätze, die du nicht denkst. An deinen Tat- / beständen kommst du nicht vorbei – es sind seltsame / Sätze. Du kannst an sie denken, sie denken nicht an // dich, sie denken dich seltsam am Rande, du bist ei- / ne Anwandlung von ihnen, die an Gegensätzen nicht / vorbeikommen. Am Rande der Sätze, in denen du bist, // liegst du noch ganz am Rand, wenn du darüber hinaus / denkst. Auch sie denken dich hinüber, doch an ihren / Tatbeständen kommen sie nicht vorbei. Es sind nur // Sätze, die nur denken können. Du denkst, sie denken / dich, sie denken, du denkst sie, es ist eine Ver- / schwörung an den Sätzen, die dich nicht abwerfen // können, die du nicht abwerfen kannst, ein Inzest. / Am Rande des Denkens, solange du denkst, liegst du / in Sätzen an Sätzen, noch kann dich keiner über den // Rand verstoßen, den du nicht denkst, seltsam, du / bist nur in Sätzen in Sicherheit, die dich wiegt, und nur in Sätzen in Freiheit, aber in welcher.
Musik: Gruber, Floating Flageolettes, zwischen den Abschnitten.
Müller: Oskar Pastior war ein sehr Stiller, der glühte nach innen. Und ich bin ja sehr extrovertiert, ich glaube, gerade das hat sich sehr gut ergänzt ... Ich habe meistens formuliert. Oskar hat nachgehakt, beglaubigt, oder auch, wenn irgendwas mit seinem inneren Eindruck nicht übereinstimmte, korrigiert. Er hat eben sehr im Detail erzählt. Und er hat auch gesagt, öfter: Ich wußte nicht, daß Prosa so schwer ist. Weil, er hatte ja seine eigene Sprache ... Ich hab mir darüber keine Gedanken gemacht. Weil es funktionierte. Man macht sich ja keine Gedanken über etwas, wenn es funktioniert.
Musik kurz weiter, Frauenstimme summt „Mamatschki“, dann weg.
Wehr: 4. Oktober 2006. Kurz bevor ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen werden soll, stirbt Oskar Pastior überraschend in Frankfurt am Main. Herta Müller setzt die Arbeit am Roman alleine fort.Müller: Also er ist immer dabei, wenn ich schreibe, das ist völlig klar, und ich muß ihn ... Ich frage ihn trotzdem weiter, und ich zeig’ es ihm trotzdem. Weil ich einfach weitermachen muß ... Du siehst ja, was wir haben, auch Material, wir haben so viel. Wir konnten gar nicht auf alles eingehen. Und ... das ist für mich auch eine Art, wahrscheinlich auch mit dem Tod von Oskar umzugehen. Das ist meine Trauerarbeit. Was soll ich sonst machen? Und darum, ich könnte das nicht liegen lassen. Das könnt’ ich nicht machen, das wäre, das würde der Oskar mir nie verzeihen ... Das erwartet der von mir.Musik: Gruber, Klagelied, 1. Phrase.Müller: Ich hab jetzt vor einigen Tagen das „Von den Schätzen“ gemacht. Ich hab das zuletzt nochmal aufgenommen, daß dieser Tur mit den Schätzen recht hatte. Und dann hab ich gemacht, die Schätze sind eigentlich seine Macken. Und das „da war ich“ gibt es nicht, sondern er hat keine Ahnung gehabt damals, aber wenn es das gibt, dann müßte es heißen, „da bleib ich“, oder „da komm ich nicht weg“. Und also diese schreckliche Sache hat er sich damals nicht vorstellen können.Musik weiter ...Müller: Eh, das ... (steht auf, holt den Text) ... Das hab ich jetzt hier, glaub ich. Ja, das ist das Original, das war das ursprüngliche, ja. Das hat der Oskar ja auch getippt, das sieht man ja auch noch ... (Blättern etc.) ... Das, na ja, und das hab ich jetzt, vor einigen Tagen hab’ ich das gemacht, von den Schätzen ... (weiter, darüber) ... Und dann sind ... die Schätze sind seine Macken. Und die Macken sind dann seine ... Was Oskar von sich auch immer gesagt hat, daß es so ist. Sein freundlicher Opportunismus. Sein herzlicher Konformismus. Dann diese Lust, sich kleinzumachen. Daß man glauben soll, daß er dünne Nerven hat und keine Verantwortung übernehmen kann. Daß er geliebt werden will, und ich möchte geliebt werden, aber ich gebe mich nicht aus der Hand. Und also daß er das vom Hungerengel gelernt hat, diese Ich-Person. Daß er seit dem Hungerengel nie mehr jemandem anderen gehört hat. Und daß er das seidene Lächeln im Zurückweichen gelernt hat vom Hungerengel. Das sind alles die Schätze der Ich-Person, die er nach der Rückkehr hat. Und dann, der größte Schatz ist der ... der Arbeitszwang. Die Wörter machen ja, was sie wollen, das kommt oft vor, die Wörter, die täuschen auch, aber dieses Wort täuscht nicht, denn Arbeitszwang ist eigentlich die Umkehrung von Zwangsarbeit. Und daß diese Ich-Person sagt, ich arbeite immer, aber nicht, weil es mir gefällt, sondern aus Zwang. Und ich arbeite aus Zwang, aus Angst vor der Freiheit. Also ich mag den Zauber des Zwangs, weil ich es nicht aushalte, frei zu leben.
Musik: Gruber, Floating Flageolettes, darüber:
Pastior liest: Kopfkissen, Teil 3: Ich verschweige meinen Weinkrampf bei der Heimkehr, bei der Ankunft im Auffanglager in Sighet, dem ersten Ort im Land. Ich brach innerlich zusammen vor Angst davor, was diese Freiheit von nun an immer alles von mir will. Wenn das, was man fünf Jahre erwartet hat, auf einmal wirklich kommt, ist im Abschied vom Lagerkissen ein schreckliches Glück. Es war im Dezember 1949, ich saß in meiner Ecke des Viehwaggons neben meinem Grammophonkistchen und meinem neuen Holzkoffer wie in einem Nest. Die Tür war nicht plombiert, jetzt wurde sie weit geöffnet, denn der Zug rollte in den Bahnhof von Sighet ein. Es lag dünner Schnee, ich dachte an Zucker und Salz, die Pfützen, alle zugefroren, glänzten wie Spiegel. Und während ich in meinem Weinkrampf schluchzte, bildete ich mir zuerst ein, Tur im Spiegel beim Rasierer zu sehen. Dann aber hörte ich auch seine Stimme, die seltsamerweise nicht zum Rasierer, sondern zu Bea, die gar nicht da war, sagte: „Der heult, mir scheint, dem läuft was über.“
Musik kurz weiter, dann Ende.
Müller: Viele sagen dann, naja, daß jemand erzählt, das ist doch normal, das machen andere auch, wenn sie was von Zeitzeugen ... Aber warum es in diesem Fall anders ist, weil eben diese Erinnerung so ist. Die ist ja Literatur. Bis hin zu den vielen Begriffen, die ich einfach übernehme und auch Bilder, und ... Das ist ja auch eine Liebeserklärung von mir an den Oskar. An diese tolle Person. An diese Person, die alles hatte, also die in ihrer Unterwürfigkeit auch sehr liebenswert war, weil sie das zugegeben hat und weil sie das auch wußte. Und weil sie auch nie gesagt hätte, es sei nicht so. Und wo aber dann hinter dieser Unterwürfigkeit plötzlich eine unglaubliche Integrität stand die ganze Zeit. Und das, dieses Gemisch, das, ich kann das gar nicht sagen, aber das macht den Oskar aus, und ich will ihm ja auch danken, weil ich auch, ich hab’, glaub’ ich, schon etwas kapiert. Und in solchen Passagen kann ich ihm das jetzt zurückgeben. Und das ist, es ist eine ganz vertrackte Angelegenheit. Es macht mich glücklich und es macht mich sturztraurig. Und das ist alles in einem, und ich muß mit dem Schmerz auch arbeiten, daß Oskar gestorben ist. Und ... dieser Schmerz, verdammte Scheiße, macht auch Sachen sinnlich. Ich werde dermaßen auf die Essenz der Sache gezwungen. Durch diese Abwesenheit jetzt, daß diese Lücke da ist, daß diese Person gar nicht existiert, die ist einfach nicht mehr vorhanden, und ich versteh nicht warum. Wenn jemand so stirbt, der ist nicht krank, der ist plötzlich einfach weg. Du machst dich, verabredest dich, sollst zusammen lesen, und der sagt, fahr vorsichtig mit dem Auto, und dann kommst du dort an, und der Mann ist tot. Und diese Plötzlichkeit, das ist ... das drangsaliert so das Thema.Musik: Gruber, Klagelied, zwischen den Abschnitten.Müller: Sätze sagen immer etwas, was sie nicht sagen. Sonst ist es ja keine Literatur. Das Gewicht, ist oft jenseits der Sätze. Und es gibt den ganz kahlen Text, der hochgradig poetisch ist durch seine Kargheit, und es gibt den metaphorischen Text, der hochgradig poetisch ist durch seine Metaphern. Und es gibt was dazwischen, und ich glaub in diesem Text muß die Mischung da sein.Musik weiter ...Und er sagt, daß die Frauen hätten viel gesungen. Viel, sehr sehr viel, es wurde unglaublich viel gesungen. „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“, und „Im Wald da blüht der Seidelbast, im Graben liegt noch Schnee“ ... Es sind manchmal auch unglaublich schöne, „Am Brunnen vor dem Tore“, alles was halt so ...
Musik: Klagelied Ende, dann Gruber, Zackbumm, Geräusche Kokerei, darüber:
Pastior liest: Mir scheint, es geht die ganze Zeit hier um Erinnerung. Wieso ist mir das Wort nicht eingefallen? Weil das Wort Erinnerung zu dem, woran man sich erinnert, nicht paßt. Und was paßt? Kühlturmwolke paßt. Honiggelbe Ledergamasche paßt. Zementsackpapier. Kohle aus Jasinowataja. Mir scheint, ich stehe jetzt 55 Jahre hinter mir, vor dem Rondell, im Lagerhof, und der Kühlturm hat gerade seine weiße Wolke ausgestoßen, ich verwechsle sie doch nicht. Manchmal heißt die Viertelstundenglut der Kühlturmwolke auch Stundenviertelglut, aber das ist nicht verwechselt. Erinnerung. Man muß ehrlich sein mit der Erinnerung. Auf diese Weise ergibt sich laufend die Erfindung. Und aus der Erfindung eine klare Benennung. Aus der klaren Benennung eine Hilfskonstruktion, ein kühler Aufbau über einem Untersatz, also eine Wolke über einem Kühlturm, also eine Viertelstundenglut. Mir scheint, es geht die ganze Zeit um die Viertelstundenglut und den Aufbau eines Untersatzes. Der Aufbau wiederum ist in den Akten verzeichnet als Wiederaufbau, also wieder eine Hilfskonstruktion in klarer Benennung, die sich darüber ausschweigt, was Zwangsarbeit ist. Eine Arbeit, die man nicht kriegt, sondern befohlen kriegt, das heißt auch, man tut sie nicht, sondern sie wird einem getan. Angetan wird sie einem. Sie ist mit keinem Beruf zu vergleichen. Man kann sie zwar Arbeit nennen, aber sie ist keine, sondern nur Leben. Scheiß-Leben, Viertelstundenscheißleben ist sie, oder verwechsle ich was? Mir scheint, es geht hier die ganze Zeit um Scheißleben, um Erinnerung, und im großen Ganzen ist Deportation eine Verlagerung, ein Transport. Eine klare Benennung ist Deportation mit Name, Alter, Adresse, Tag, Monat und Jahr auf einer Liste, für den Viehwaggon in eine unbekannte Richtung. Dann ein Auffanglager, das sich darüber ausschweigt, für wie lange. Und daß die Aufgefangenen Zwangsarbeiter sind, oder Internierte, oder verwechsle ich was. Es geht hier die ganze Zeit um mich. Um diese taktgenaue Viertelstundenglut und um die unbekannte Richtung der Erinnerung.
Musik: Gruber, Floating Flageolettes, darüber Abspann:
Janssen: Hungerengel.Über einen Gemeinschaftsroman von Herta Müller und Oskar PastiorEine Sendung von Ulrike Janssen und Norbert WehrMit Herta Müller, Oskar Pastior und Ernest WichnerMusik: Peter N. GruberRegie: Ulrike JanssenDank an Urs Engeler, Thomas Geiger, Florian Höllerer, Richard Ortmann und Klaus RammEine Sendung des Westdeutschen Rundfunks, 2007Redaktion: Imke Wallefeld
Pastior: Ja, dies ist der 8. Mai 1945, Frieden ... An der Stelle lag ich auch damals, nur gab es kein Gras, und dieser dicke Baum links, der war zweidreivier Finger breit. An dem Tag mußten wir nicht arbeiten, und wir lagerten dort im Lagerhof, es war Frühling, natürlich, 8. Mai, und haben gedacht, na ja, jetzt morgen geht’s nach Haus ...
Eine Frauenstimme summt „Mamatschki, schenk mir ein Pferdchen“ ...