Die geschenkten SBB-Minuten
22.05.2007 um 18:59
*aus dem Fundus meiner Deutsch-Unterricht-Vergangenheit*
Die geschenkten SBB-Minuten oder: Eine Ode an die Verspätungen
Dass ich meiner obligatorischen Schulzeit noch zwei Jahre Verkehrsschule folgen liess, löste in meinem Kollegenkreis Reaktionen aus. Ich wurde gefragt, ob für mich der lange Weg nach Olten keine Belastung sei. Sechs Tage in der Woche eineinhalb Stunden im Zug verpendeln, das muss doch langweilig sein. Nein. Überhaupt nicht.
Natürlich hört man von Seiten vieler Pendler dieselben Vorteile oder guten Erfahrungen, die regelmässige Zugfahrten mit sich bringen. Oft zitiert werden die vielen netten Bekanntschaften und die Möglichkeit, während dem Arbeitsweg zu arbeiten. Immer ist etwas los. Die Bahn bewegt ja schliesslich.
Selbstverständlich habe auch ich viele Jugendliche kennengelernt, die dem gleichen Schicksal - eben dieser Pendler-Situation - ausgesetzt sind. Aber arbeiten Sie mal während den Stosszeiten in einem Abteil der zweiten Klasse. Schon probiert? Falls Sie dieses Experiment als geglückt betrachteten, darf ich Ihnen gratulieren. Ich selbst wollte, konnte aber oft meine Gedanken nicht auf die Grösse eines Schulbuches, geschweige denn auf jene meines Kugelschreibers bündeln. Doch um diese Problematik geht's mir hier eigentlich gar nicht.
Viel mehr liebte ich Verspätungen. Ja, Sie lesen richtig, Verspätungen. Jede Sekunde einer - in meinem Falle 43 Minuten dauernden - Zugfahrt kann verplant werden. Mit Aufgaben machen, Musik hören, oder mit dem Ausschau-Halten nach derTraumfrau, die ja - glaubt man der Werbung - vielleicht plötzlich ins selbe Abteil sitzt. Verspätungen aber sind ein Geschenk und kommen unverhofft. Und unverhofft kommt oft. Auch bei den SBB.
Natürlich haben Verspätungen auf dem Schulweg einen anderen Charakter als jene auf einer Zugreise nach Rom. Und ich kam deshalb auch selten zu spät in den Unterricht. Nein, ich empfand die zusätzlichen Minuten des Wartens auf den Anschlusszug nach Olten immer als geschenkte Zeit. Als Hauch von Freiheit auf dem Bahnhof Aarau. Oder als den Duft der weiten Welt, wenn abends der TGV aus Paris vorbeidonnert.
Denn in dieser Zeit - so habe ich das Gefühl - kann man tun und lassen was man will. Seine Gedanken kreisen lassen. Über Dinge, wie beispielsweise die positiven Seiten einer von der Mehrheit gehassten Verspätung. Warten muss man ja sowieso. Und wenn er dann kommt, der verspätete Zug, dann kann man weiterplanen. So, wie's der moderne Mensch halt tut.