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Kizmiaz! The Cramps live im Volkshaus Zürich 1986

17.10.2010 um 18:31

1986: Rock’n’Roll war eine Lüge. Punk war die Wahrheit, Hardcore Punk. Aber Rock’n’Roll? Das war etwas für die Holzköpfe vom Land, Hardrock, Scheissdreck für rassistische Idioten. Als The Cramps 1986 zum ersten Mal über die Schweiz hereinbrachen, am 21. April im Volkshaus Zürich, hätte kein Mensch das, was in dieser Nacht geschah, Rock’n’Roll genannt. Eher Psychobilly, oder Garagerock (obwohl das Volkshaus ne ziemlich grosse Garage abgab) und nicht Rockabilly (Nigger-hassende Rednecks und verirrte Fascho-Skins), nicht Rock’n’Roll (siehe oben), nicht Punkrock – oder nicht mehr, denn Punkrock lag 1986 darnieder in Nostalgie und Kaputtness.

Als die Cramps-Show auf Plakaten angekündigt wurde, ging ein teuflischer Ruck durch alle Szenen und Subszenen: The Cramps, «eine wahrhaft uramerikanische Kreation im Sinne des Cadillacs oder des Hamburgers oder der Fender Stratocaster» (allmusic.com), diese Band brauchte keine Schublade. Sie war der Inbegriff des Radikalen, Obsessiven, Gefährlichen, Abseitigen: die düstere, sexualisierte, augenzwinkernde Magie schlechthin. Und scharf: Poison Ivy, die ewige Partnerin von Sänger Lux Interior, war scharf und vulgär und cool. Ivy und Lux waren das perfekte Paar – er war nicht ohne sie, sie nicht ohne ihn denkbar.

Radio-DRS3-Grossmeister F.M. hatte vor dem ausverkauften Konzert im Volkshaus auf eine Single der Cramps verlost, und ich hatte sie gewonnen. The Cramps, «Kizmiaz», New Rose, 7" Promo, very rare. Limited to 200 copies (lese ich grad im Internet, danke FM!).

Der Aufmarsch im Volkshaus – spiessig beäugt von der securityschiebenen Broncos MC-Crew – war ein Treffen des Mainstreams der unversöhnlichen Minderheiten: Skinheads, Rockabillys, Edel-Punks, linke Rocker, Bondage-Pärchen, ultraharte Punks, Weicheier-Punks, Gothic-Priester, Anzugträger, Zombies, Splatter-Fans, Mods, Elvis-Lookalikes, Space-Hippies, Existentialisten ... alle klassenlos Verrückten waren da, und mit ihnen viel Leder, viel Schminke, Nietengürtel, Strapse, Tattoes. Als The Cramps endlich auf die Bühne gingen, war die Pogo-Saison eröffnet. Ich war derart nah an dieser so charmant peitschenden Band, dass ich gar nicht begriff, was wenig später oben auf dem Balkon geschehen war. Lux war die Boxentürme zum Balkon hochgeklettert und hatte eine Skinhead-Faust kassiert. Blutüberströmt klettere er auf die Bühne zurück, nuschelte was ins Mikrophon («I saw worse things than that, boy» oder so ähnlich) und setzt die Show fort, als wäre nichts gewesen. Währenddessen kroch im Pogo-Pulk eine Frau am Boden herum, und als wir sie hochziehen wollten, wehrte sie sich panisch: sie w o l l t e da unten sein und all die Fusstritte kassieren. Masochismus pur. Das passte zu den Cramps wie sonst nichts.

Nach der Show: Beim Ausgang standen ziemlich beeindruckende, tätowierte Muskelpakete – Roadies der Cramps-Crew – erhöht auf Garderobenelementen und scannten jeden, der das Haus verliess. Als sie sich schliesslich einen der verdächtigen Balkon-Skins aus der Menge fischten und ihn ins Klo runterschleiften, war die Welt wieder in Ordnung. Und Lux Interior gerächt.

Im Februar 2009 ist Lux Interior 63jährig gestorben. Doch er wird zurückkehren, irgendwann, als Zombie wie in «The Return of The Living Dead». Todsicher! Heute kann ich wieder Rock’n’Roll sagen, ohne an dumpfe Rockerrassisten zu denken. Ich denke einfach an Lux und es wird Licht. Und: Ein paar Gute sind ja noch übrig: Iggy Pop (63), Neil Young (64), Lemmy Kilmister (64). Poison Ivy (57). – Und das Volkshaus Zürich auch.

Chrigel Fisch© Loop Musikzeitung, Zürich, Oktober 2010

The Cramps Website:

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