Die Schamhaare von Iggy Pop: Ein Fotobuch über die Wahrheit
21.03.2012 um 00:07
Ich habe heute ein Buch gekauft und bevor ich davon erzähle, kommt das hier, weil es erklärt, warum das Buch – ein Fotobuch – gut ist.
Die Kameras der Welt sind auf alles gerichtet, was davon erzählt, dass es noch Leben gibt auf dem Planeten, das sich für Geld verkaufen lässt. Und was danach im World Wide Net davon an Fotos sichtbar wird, vermittelt tausenfach, millonenfach eine Realität, die immer mehr als d i e Realität gilt, die einzige Realität, also know as The Wahrheit. Nicht nur in den Köpfen, sondern auch in der Geschichtsschreibung. Dass das Bild meistens falsch ist, wissen alle, die bei grün über die Strasse gehen können.
Dass man das Bild und viele andere trotzdem anschaut, einsaugt, abspeichert und sich damit eine eigene Realität des Erlebten bastelt, ist heute weniger eine Alternative, sondern Pflicht oder einziger Ausweg, weil man selber niemals die Dichte leben kann, die in guten Fotos abgebildet ist.
Alle Bilder sind manipuliert
Wir leben durch andere, durch die Bilder derer, die etwas erlebt haben, wovon wir träumen oder grauenhafte Angst haben: Startum, Glück, die grosse Bühne, Glamour, Heckenschützen, Krieg, zerfetzte Menschen, kaputte Kinder. World wide. Das Bild, die Fotografie, sie sagen «es», doch sie meinen «Du». Jedes Bild, das Glück abbildet, meint Schmerz. Und jedes Bild, das Schmerz zeigt, meint Glück. Glück, am Leben zu sein. Wir leben durch andere. Und von Fotos, die falsch sind: Bilder (auch berühmte), sind manipuliert, gestellt, retouchiert, inszeniert und ikonisiert. Sie lügen, bevor sie in Druck gehen oder irgendwo hochgeladen werden. Sie werden trotzdem zu unserer Realität. Es ist nicht so, dass die Fotografen uns belügen, nein, wir akzeptieren die zurechtgerückte Realität als eine willkommene und schliesslich als eine erstrebenswerte oder bewundernswerte und schliesslich als unsere. Dass es auch anders geht, zeigt das Buch, von dem ich weiter unten erzähle.
Es kann sein, dass man alles vergisst
Musik meint heute lustige smarte Buttons und Apps, die wir im Internet anklicken, um eine genormte Datei runterzuziehen, natürlich gratis, denn Musik kostet nichts, die dann auf einem schicken Gerät anfängt, Coolness zu verbreiten oder Soundtrack eines total guten oder total beschissenen Moments zu werden. Musik als Accessoire, als Handtasche, als Tattoo, Sonnenbrille, als Kumpel, als Geist. Dabei ist gute Musik – Rockmusik, Techno, Blues, Drum’n’Bass, Metal, HipHop, name it – immer der wahrste Ausdruck von Leben. Gemeinsamkeit. Energie.
Dazu braucht es keine Massen im Stadion, es genügen einige Gleichgesinnte spätnachts und eine Band auf der Bühne, die nur diesen Moment der Live-Show lang existiert. Das Ritual eines Rockkonzerts zum Beispiel ist schon 1 Million Mal durchgespielt worden und es kann sein, dass es anfängt zu langweilen. Es kann sein, dass man dasteht und nichts empfängt, nichts empfindet, nichts lernt. Es kann sein, dass man dasteht und alles vergisst was je gewesen ist, vor allem gerade vorher. Dass man liebt, was ist und dass es überhaupt da ist und dass es eine derartige Energie erzeugen kann, die das Gehirn ausknipst. Etwas Vergleichbares ist Sex und vielleicht spielt Sex in der Musik deshalb eine so grosse Rolle.
Wollen wir die sehen?
However, wir trauen den Bildern nicht und das ist ein Dilemma. Dabei gibt es echte Bilder, nicht verfälschte, nicht inszenierte oder gepimpte Bilder. Nur: wollen wir die sehen? Schwarzweiss-Fotos von Industriearealen? Blauweiss-Fotos von griechischen Dörfern? Porträts von makellos gephotoshopten Weiss-Gott-wie-wichtigen-Menschen? Wollen wir die sehen? Ja. Nein. Was war die Frage?
Menschen nach der Arbeit
Und hier ist endlich das Buch, das ich heute gekauft habe. Es zeigt Musikerinnen und Musiker, die nach einer schweisstreibenden Show von der Bühne kommen und nicht so aussehen, wie die Celebrity-Bilder oder Pressefotos der Plattenfirmen sie sonst zeigen. Wir sehen im Buch einen komplett fertigen Iggy Pop und seine Schamhaare unter dem offenen Hosenschlitz seiner Jeans, wir sehen die spargeldünne Juliette Lewis in voller Unschuld oder Peaches in voller Blüte. Wir sehen kalifornische Tattoo-Götter von Queens Of The Stone Age oder Metallica und wir sehen weissen, verschwitzten Bauchspeck von Musikern, die auf den «echten» Bildern immer ganz smart aussehen. Wir sehen leere Backstageräume, während draussen die Menge nach Zugaben schreit. Wir sehen den Moment, in dem Intimität das allerwichtigste ist. Egal, ob es sich um bekannte Leute von The Hives, Gnarls Barkley oder Metallica oder eben um Musiker aus der Schweiz handelt – die Fotos reissen die Mauer der Bedeutsamkeit genauso nieder wie die des Glamours. Oder der Vorstellung, dass ein Star nach der Show nicht allein sei. Er ist allein, das ist so. Wir sehen – Menschen nach der Arbeit. Und es kann sein, dass ihre Arbeit gerade 50, 500 oder 50'000 Menschen ziemlich glücklich gemacht hat.
«The Moment After The Show»
Das Buch heisst «The Moment After The Show» und man soll es kaufen und anschauen, denn man sieht sich selber durch andere, wie man sich eigentlich nicht sehen will, nämlich unvorteilhaft, aber eben: wahr. Für einen Moment, den Moment direkt nach der Show. Und ganz nebenbei: Die Fotos von Iggy Pop auf Seite 95 oder 96, das sind Ikonen der Musikgeschichte. Später werden es alle sagen, sage es jetzt.
Search and destroy.
Thank you, good night.
PS: Was das Buch nicht sagt und auch nicht sagen muss, ist, warum alle das Gefühl haben, Musik sei einfach gratis zu haben im Internet (als würde sie an Bäumen wachsen), während jeder beschissene Politiker oder Finanz-CEO, der uns offenkundig anlügt, ein sechs-, sieben- oder achtstelliges Gehalt pro Jahr beziehen kann. (Wenn Du andere nicht für ihre Arbeit bezahlst, erwarte nicht, dass jemand dich für deine Arbeit bezahlt.)
«The Moment After The Show», Rough Publications, Basel, 2012. Ca. 120 Fotos, Interviews. Zu kaufen für echtes Geld in jedem guten Buchladen oder direkt über die Website.
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«The Moment After The Show»: Ausstellung während dem M4Music Festival in Zürich, 23. Und 24. März 2012.