Verabschiedende MASSnahmen
Tian Hartmann - Torkelnd taste ich mich vorwärts. Der regennasse Schnee tropft unablässig auf meinen Kopf, die Sicht durch die verschmierten Brillengläser ist minimal. Die Lichter der wenigen Autos, die sich um diese unheilige Zeit noch auf den Strassen verirrt haben, verschwimmen vor meinen ...
„Trink nicht so viel in Berlin“, hatte mir mein Vater noch mahnend geraten. Werde ich bestimmt nicht tun, hab‘ ich gar nicht vor. Denn im Moment steht mir der Kopf überhaupt nicht nach Saufen, ganz und gar nicht. Und überhaupt, ich bin ja noch nicht einmal in Berlin. Noch torkle ich nächtens durch die Strassen Zürichs, kämpfe verzweifelt gegen die feindlichen Mächte in Form unzähliger Verabschiedungsfeten. Hier ein Freund, da eine Bekannte. Sie alle wollen ein letztes Mal anstossen, locken mit nur noch einem Bier, ein letztes geht noch... Wenn das so weitergeht, dann seh‘ ich schwarz.
„Liebes Internationales-Sekretariat der Soundso-Hochschule, Leider kann ich nun doch nicht als Austauschstudent nach Berlin kommen. Meine Leber hat die Verabschiedungszeremonien nicht überlebt und liegt nun zwecks Generalüberholung im Unispital zu Zürich; ich mit ihr.“
Ich weiss nicht, wie du das überlebt hast, Andi, bevor du nach Helsinki gegangen bist. Das Fortgehen ist ja eine Sache, das unbeschädigte Überleben des Verabschiedungsmarathons eine ganz andere. Bevor ich mir das nahende Auslandsemester lebertechnisch ans Bein streiche, sollte ich vielleicht etwas kürzer treten und priorisieren: Für gute Freunde gibts ein Mass, Kollegen haben Anspruch auf eine gemeinsame Stange. Von flüchtigen Bekannten lass ich mich gerne auf ein Hergöttli einladen und wenn du meinen Namen nicht kennst, dann führe mich nicht in Versuchung. Denn das Fleisch ist schwach, meine Leber aber wird’s dir danken.
Mein alter Herr soll sich mal keine Sorgen machen. Schlimmer geht’s nimmer.