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22. April 2009, 00:00 Kolumnen

Backflash Berlin

Tian Hartmann - Keine Angst, es folgen keine Geschichten von Sonnenschein und Sonnenbrand. Obwohl das Naherholungswochenende im weiteren Sinne auf Rügen erwähnenswert ist. Eigentlich wollte ich dir ja von da aus eine Flaschenpost über die Ostsee nach Helsinki schicken, doch dann habe ich die ...

Keine Angst, es folgen keine Geschichten von Sonnenschein und Sonnenbrand. Obwohl das Naherholungswochenende im weiteren Sinne auf Rügen erwähnenswert ist. Eigentlich wollte ich dir ja von da aus eine Flaschenpost über die Ostsee nach Helsinki schicken, doch dann habe ich die Buddel ausgetrunken und die Botschaft gelbglänzend ins eiskalte Meer gepisst.

Auf der Fahrt zurück, im Regionalzug der Deutschen Bahn, durch Feld und Wald, ist es dann über mich gekommen. Der Zug bahnte sich seinen Weg durch die Dämmerung in die Nacht, an den schweigenden Fahrgästen zog die endlose Landschaft vorbei. Plötzlich verschwamm mein Blick, die zerfallenen Häuser am Weg wirkten wie zerbombt. Endlose Weite auf beiden Seiten des Zuges, doch das Idyll zerfiel vor meinen Augen. Lange Schützengräben zogen sich durch das frühlingsgrüne Gras und ausgebrannte Fahrzeugwracks lagen am Fusse des Gleiswalls. Alle 100 Meter ragten drohend Wachtürme in die Höhe, als neben mir ein Soldat in tarnfarbener Uniform seinen Seesack öffnete. Augenblicklich füllte der ausströmende Geruch von Schweiss, Dreck, Zersetzung und Zerstörung das Abteil und vervollständigte meine düstere Vision. In mir kam Panik auf. In welchem Film sitze ich hier bloss? Wo geht‘s hier bitte raus? In den dunklen Baumgerippen am Ende des Feldes hingen schlaffe Fallschirme und gerade als ich meinen Blick von der unheilvollen Szenerie abwenden wollte, sah ich, wie sich etwas im Feld vorwärtsbewegte. Ein Soldatenspähtrupp?

Jäh fiel mein Starrblick in sich zusammen, als die Soldaten zu hüpfen und springen begannen - eine fröhliche Hirschfamilie beim Abendmahl. Innert Sekunden wurden die Schützengräben zu Bewässerungskanälen, Wachtürme zu Jagdsitzen und die Fallschirme in den Bäumen waren nichts mehr als harmlose Mistelzweige. Was blieb war die unsägliche Ausdünstung des Rekruten neben mir.

Zurück in Berlin, der grauen Schönheit, wurde mir das Ausmass meiner Vision bewusst. Achtlos bewege ich mich Tag für Tag über die geschichtsträchtigen Strassen dieser Stadt, dieses Landes. Leute versuchen zu vergessen, andere zu erinnern. Und ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, über das Gestern dieser Stadt, das mich doch heute aus den alten Mauern und Strassen anstarrt. Klar, ich kenne die Geschichte der Stadt, die Geschichte von Kriegen und Mauern und Trennungen und Vereinigungen. Doch irgendwie habe ich bisher daran vorbei gelebt. Ich habe gelacht, gefeiert und getanzt, hell yeah, ich habe sogar getanzt. Bewusstlos. Bis sie mich überkam, die vergangene Zukunft.

Geschichten in Berlin, Geschichten in Helsinki.

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