Magazin durchsuchen

Neuste Blogs

16. Juli 2009, 10:20 Konzert Music Festivals

Ein Abend am Montreux Jazz Festival, 7. 7. 2009

Philipp Ramer - Mit Ausnahme einer Schar Teenies, die – zum Teil in Begleitung ihrer Eltern – schon kurz nach Einlass die ersten Reihen vor der Bühne in Beschlag nehmen, füllt sich das Auditorium Stravinski schleppend. Als Claude Nobs um 20:15 die Klaxons ankündigt, ist der Saal höchsten...

Mit Ausnahme einer Schar Teenies, die – zum Teil in Begleitung ihrer Eltern – schon kurz nach Einlass die ersten Reihen vor der Bühne in Beschlag nehmen, füllt sich das Auditorium Stravinski schleppend. Als Claude Nobs um 20:15 die Klaxons ankündigt, ist der Saal höchstens zu zwei Dritteln voll. In obskuren metallisch-glitzernden Kleidern, die ohne Weiteres den Restbeständen des örtlichen Kostümverleihs entstammen könnten (Regal ‚Herr der Ringe’, Schublade ‚Marsmensch’), erscheint das britische Rock-Quartett auf der blau erleuchteten Bühne. Die Herren nehmen Stellung ein und legen mit Atlantis to Interzone los, einem furiosen, durch gesampelte Sirenen und Schreie verstärkten Stück Dance-Punk. Trotz des stürmischen Einstiegs bleiben die Reaktionen des Publikums verhalten. Auch die nächsten Songs, allesamt treibende Elektro-Rock-Nummern, vermögen die Zuhörer nicht wirklich in ihren Bann zu schlagen. Die Pausen zwischen den Liedern werden kaum durchgeklatscht, die folgende peinliche Stille wird nur von gelegentlichen Zwischenrufen durchbrochen. Erst beim einstigen Charthit Golden Skans gehen ein paar dutzend Hände in die Luft und werden die Handykameras gezückt. Das Konzert gewinnt etwas an Schwung, in den vordersten Reihen wird gehüpft, dass man die Erschütterungen im Parkett bis ins Mittelfeld spürt. Dennoch will der Funke nicht richtig springen. Liegt es an der nicht immer ganz treffsicheren Stimme von Sänger und Bassist Jamie Reynolds? Liegt es daran, dass jener ein Gesicht macht, als ob er am liebsten ganz, ganz weit weg von hier wäre? Oder daran, dass die Klaxons kaum neues Material spielen, dass der Grossteil des Sets vom zwei Jahre alten Debutalbum stammt? Schon 2007 sprach die Band in Interviews von einer Nachfolgerplatte, die noch poppiger, noch besser werden sollte. Gekommen ist bislang nichts; der Veröffentlichungstermin wurde immer wieder verschoben, ein bereits fertiges Album von der Plattenfirma zurückgewiesen. Zuletzt gab Reynolds Mitte Juni bekannt, seine Gruppe hätte zwar an die 30 neue Songs, doch fehle ihr ein Produzent. Mit dem Nachfolger von Myths of the near Future sei wohl erst 2010 zu rechnen. Irgendwie scheint ein wenig der Saft raus bei dieser Band, die noch vor zwei Jahren bei den Brit Awards und letztes Jahr bei den NME Awards der grosse Abräumer war.Für Gravity's Rainbow gibt es nochmals ordentlichen Applaus in Montreux, dann, nach 45 Minuten Spielzeit, ist der Spuk vorbei. Man meint allseitige Erleichterung zu spüren.

Nun wird die Bühne für Lily Allen umgebaut, die eigentliche Headlinerin des Abends. Die Halle leert sich – nur die Teenies in den vordersten Reihen bleiben unbewegt an ihrem früh erkämpften Standort. Der Soundcheck wird durchgeführt und im Bühnenhintergrund in grossen weissen Stofflettern das Wort ‚Lily’ aufgespannt. Kurz vor zehn Uhr ist das Publikum zurückgekehrt und sind neue Zuhörer dazugekommen, das Auditorium ist proppevoll.

Goldkehlchen mit Gold-Make-up

Tosender Applaus schallt durch die Halle, als Lily Allen mit ihrer vierköpfigen Band die Bühne betritt. Die Sängerin trägt ein schwarzes, halbtransparentes Mini-Kleidchen mit aufgesticktem Blumenmuster (und ja, einen Slip darunter), darüber eine kurze, schwarzsilberne Weste. Die Augen sind extravagant mit Gold-Glitter geschminkt, die dunklen Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Konzert beginnt mit Everyone’s At It, dem Opener vom zweiten, aktuellen Album It’s Not Me, It’s You. Lily hat das Publikum von Beginn weg fest im Griff: Die Lieder werden mitgesungen und mitgeklatscht, und jede Wortäusserung, sei es nur ein „Hello!“, wird mit frenetischem Jubel beantwortet. Auf das erste Lied folgen I Could Say und Never Gonna Happen, dann das kecke Kaiser-Chiefs-Cover Oh My God, das die Britin 2007 mit Mark Ronson produzierte. Mit Ausnahme von Chinese singt sie alle Tracks der neuen Platte, ab dem Vorgängeralbum kommen unter anderem Everything’s Just Wonderful, LDN und natürlich Smile, ihr erster grosser Hit, zum Zug. Lily changiert zwischen süsser Pop-Prinzessin, die mit grossen Augen ins Publikum schaut, während sie ihr Getränk durch einen Strohhalm schlürft, und betörender Chanteuse, die sich sexy zur Musik bewegt und nonchalant Zigaretten raucht. Souverän singt sie sich durch die vielen poppigen, opulent instrumentierten Songs, die zarteren Stücke vertont sie mit viel Bedacht. Schön zum Zug kommt ihre Stimme während der „Jazz section of the show“: Nur von Piano und Gitarre begleitet trägt sie He Wasn’t There, das Lied für ihren Vater Keith, vor, darauffolgend eine reduzierte Version der sanften Ballade Littlest Things. Im zweiten Teil des Konzerts wiederum zeigen sich Lily und Band erfrischend verspielt und experimentierfreudig. Der leichtfüssige Sommertrack Smile wird gegen Ende in eine Drum’n’Bass-Nummer verwandelt, bevor mittels elektronisch-sphärischen Klängen zur Hitsingle The Fear übergeleitet wird. Auf diesen Track folgt zunächst ein verrücktes kurzes Electro-Instrumental aus Kid Cudis Day 'n' Nite, dann ein fulminantes Cover von Britney Spears’ Womanizer. Lily schlüpft aus ihren High Heels und springt barfuss singend auf der Bühne herum. Viel Beifall wird nach dem letzten Song Not Fair gespendet, das Publikum möchte eine Zugabe. Schon wird Lily von einem Roadie das Mikrofon wieder hingestellt, doch anstatt einer Encore gibt’s zwei Geschenke von Claude Nobs: Blumenstrauss und Armbanduhr. Mit vollen Händen und einem Lächeln auf den Lippen verlässt die Sängerin endgültig die Bühne. „Had a great gig“, schreibt sie am nächsten Tag in ihrem Twitter-Blog.

Nordische Soul Power

Den krönenden Abschluss des Abends bildet das „Midnight Special“, der Auftritt des holländischen Soulsängers Alain Clark mit seiner neunköpfigen Band. Nur mehr wenige Leute stehen vor der Bühne, als die Gruppe kurz nach Mitternacht ihr Set beginnt. Doch dieser Zustand ändert sich bald: Clarks charismatische Show, seine energiegeladene, mitreissende Mischung aus Motown-Soul und Funk lockt das Publikum scharenweise zurück ins „Strav“. Bald tanzt der ganze Saal inklusive Staff-Miglieder zu ausgedehnten Versionen von This Ain’t Gonna Work oder I Don’t Wanna Change The World. Gut eineinhalb Stunden jammt die vor Spiel- und Improvisationsfreude strotzende Band sich die Finger wund, und beschliesst ihr Konzert nach mehrfacher Zugabe mit einer perfekten, zehnminütigen Variante des Otis-Redding-Klassikers Hard To Handle.

Wer nun noch überschüssige Energie hat – oder eben erst recht in Partystimmung geraten ist, kann die Nacht bis Sonnenaufgang im MDH Club oder im Jazz Café zubringen. In letzterem Lokal beginnt Jamie Cullum um vier Uhr nachts eine spontane Jam-Session. Das gibt’s nur in Montreux.

Kommentare
Login oder Registrieren