Ein Abend am Montreux Jazz Festival, 7. 7. 2009
Philipp Ramer - Mit Ausnahme einer Schar Teenies, die – zum Teil in Begleitung ihrer Eltern – schon kurz nach Einlass die ersten Reihen vor der Bühne in Beschlag nehmen, füllt sich das Auditorium Stravinski schleppend. Als Claude Nobs um 20:15 die Klaxons ankündigt, ist der Saal höchsten...
Nun wird die Bühne für Lily Allen umgebaut, die eigentliche Headlinerin des Abends. Die Halle leert sich – nur die Teenies in den vordersten Reihen bleiben unbewegt an ihrem früh erkämpften Standort. Der Soundcheck wird durchgeführt und im Bühnenhintergrund in grossen weissen Stofflettern das Wort ‚Lily’ aufgespannt. Kurz vor zehn Uhr ist das Publikum zurückgekehrt und sind neue Zuhörer dazugekommen, das Auditorium ist proppevoll.
Goldkehlchen mit Gold-Make-up
Tosender Applaus schallt durch die Halle, als Lily Allen mit ihrer vierköpfigen Band die Bühne betritt. Die Sängerin trägt ein schwarzes, halbtransparentes Mini-Kleidchen mit aufgesticktem Blumenmuster (und ja, einen Slip darunter), darüber eine kurze, schwarzsilberne Weste. Die Augen sind extravagant mit Gold-Glitter geschminkt, die dunklen Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Konzert beginnt mit Everyone’s At It, dem Opener vom zweiten, aktuellen Album It’s Not Me, It’s You. Lily hat das Publikum von Beginn weg fest im Griff: Die Lieder werden mitgesungen und mitgeklatscht, und jede Wortäusserung, sei es nur ein „Hello!“, wird mit frenetischem Jubel beantwortet. Auf das erste Lied folgen I Could Say und Never Gonna Happen, dann das kecke Kaiser-Chiefs-Cover Oh My God, das die Britin 2007 mit Mark Ronson produzierte. Mit Ausnahme von Chinese singt sie alle Tracks der neuen Platte, ab dem Vorgängeralbum kommen unter anderem Everything’s Just Wonderful, LDN und natürlich Smile, ihr erster grosser Hit, zum Zug. Lily changiert zwischen süsser Pop-Prinzessin, die mit grossen Augen ins Publikum schaut, während sie ihr Getränk durch einen Strohhalm schlürft, und betörender Chanteuse, die sich sexy zur Musik bewegt und nonchalant Zigaretten raucht. Souverän singt sie sich durch die vielen poppigen, opulent instrumentierten Songs, die zarteren Stücke vertont sie mit viel Bedacht. Schön zum Zug kommt ihre Stimme während der „Jazz section of the show“: Nur von Piano und Gitarre begleitet trägt sie He Wasn’t There, das Lied für ihren Vater Keith, vor, darauffolgend eine reduzierte Version der sanften Ballade Littlest Things. Im zweiten Teil des Konzerts wiederum zeigen sich Lily und Band erfrischend verspielt und experimentierfreudig. Der leichtfüssige Sommertrack Smile wird gegen Ende in eine Drum’n’Bass-Nummer verwandelt, bevor mittels elektronisch-sphärischen Klängen zur Hitsingle The Fear übergeleitet wird. Auf diesen Track folgt zunächst ein verrücktes kurzes Electro-Instrumental aus Kid Cudis Day 'n' Nite, dann ein fulminantes Cover von Britney Spears’ Womanizer. Lily schlüpft aus ihren High Heels und springt barfuss singend auf der Bühne herum. Viel Beifall wird nach dem letzten Song Not Fair gespendet, das Publikum möchte eine Zugabe. Schon wird Lily von einem Roadie das Mikrofon wieder hingestellt, doch anstatt einer Encore gibt’s zwei Geschenke von Claude Nobs: Blumenstrauss und Armbanduhr. Mit vollen Händen und einem Lächeln auf den Lippen verlässt die Sängerin endgültig die Bühne. „Had a great gig“, schreibt sie am nächsten Tag in ihrem Twitter-Blog.Nordische Soul Power
Den krönenden Abschluss des Abends bildet das „Midnight Special“, der Auftritt des holländischen Soulsängers Alain Clark mit seiner neunköpfigen Band. Nur mehr wenige Leute stehen vor der Bühne, als die Gruppe kurz nach Mitternacht ihr Set beginnt. Doch dieser Zustand ändert sich bald: Clarks charismatische Show, seine energiegeladene, mitreissende Mischung aus Motown-Soul und Funk lockt das Publikum scharenweise zurück ins „Strav“. Bald tanzt der ganze Saal inklusive Staff-Miglieder zu ausgedehnten Versionen von This Ain’t Gonna Work oder I Don’t Wanna Change The World. Gut eineinhalb Stunden jammt die vor Spiel- und Improvisationsfreude strotzende Band sich die Finger wund, und beschliesst ihr Konzert nach mehrfacher Zugabe mit einer perfekten, zehnminütigen Variante des Otis-Redding-Klassikers Hard To Handle.Wer nun noch überschüssige Energie hat – oder eben erst recht in Partystimmung geraten ist, kann die Nacht bis Sonnenaufgang im MDH Club oder im Jazz Café zubringen. In letzterem Lokal beginnt Jamie Cullum um vier Uhr nachts eine spontane Jam-Session. Das gibt’s nur in Montreux.