Au loin des villages
Christina Ruloff - Nach dem Massaker folgt das Warten auf den Tod: In Tschad warten Tausende von Flüchtlingen aus Darfur in winzigen Lagern darauf, dass etwas passiert, dass der Tag vorübergeht, dass das Leben weitergeht – und nichts geschieht. Olivier Zuchuat hat die Situation der Dajo präzis...
„Um das Warten filmisch zu dokumentieren, muss man warten“, erzählt der Genfer Regisseur Olivier Zuchuat: „Ich verbrachte viel Zeit mit sitzen, beobachten, zuhören, erklären, nichtstun, ohne dabei die Kamera auszupacken.“ Zuchuat versuchte sich – soweit das einem Aussenstehenden irgendwie möglich ist – den Gegebenheiten, Gewohnheit, dem Alltag der Dajo anzupassen und so festzuhalten, wie diese Menschen leben.
Im April 2006 flohen rund 13'000 Dajo aus Darfur in den Westen Tschads vor den Dschandschawid. Sie haben die entsetzlichen Massaker, das systematische Ausradieren ganzer Dörfer durch Zufall oder Glück überlebt. Nun vegetieren sie in einem Flüchtlingslager vor sich hin und warten. Zurück können sie nicht. Nicht einmal aus dem Lager heraus wagen sie sich, denn überall lauern die plündernden, vergewaltigenden und mordenden Dschandschawid. Die Dajo sind Gefangene, zu ihrer eigenen Sicherheit. Sie werden von internationalen Hilfswerken umsorgt, ernährt, am Leben gehalten. Doch ihr Dasein besteht nur aus endlosem Warten, aus unerträglicher Monotonie, aus der sehr schwachen Hoffnungen, dass irgendwer – vielleicht die internationale Gemeinschaft? Die UNO? – ihnen hilft, die Regierung in Khartum zur Räson bringt und ihnen damit endlich wieder ihr Land, ihre Heimat ihr Leben zurückgibt. Doch das alles ist mehr als unwahrscheinlich. Seit 2003 findet in Darfur Völkermord statt, vor den Augen der sogennanten Weltöffentlichkeit. Bilder von verbrannten, an Bäume geketteten Kinderleichen gingen um die Welt. Und niemand (oder niemand der über genügend Einfluss verfügt, dem unsäglichen Verbrechen ein Ende zu bereiten) schert sich um die über 2,5 Millionen Vertriebenen. Eine Zukunft haben diese Menschen nicht. Die Vergangenheit ist von entsetzlichen Erinnerungen geprägt. Und die Gegenwart besteht aus stumpfsinnigem Warten.
Zuchuat hält diesen „All-Tag“ in sehr langen, unbewegten Einstellungen fest: Frauen fegen vor ihrer Hütte. Frauen kehren von der gefährlichen Suche nach Brennholz ins Dorf zurück. Frauen warten darauf, dass ihr Name von einem Mitarbeiter eines Hilfswerkes aufgerufen wird, um ihre Ration in Empfang zu nehmen. Frauen warten. Und die Zeit geht nicht vorüber. Die Sonne geht nicht unter. Und die Erinnerungen an die ermordeten Verwandten, Geliebten, an die Vergangenheit bleiben immer präsent. Zuchuat ist es sogar gelungen, durch seine lange Anwesenheit im Lager das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen. Sie trauen sich, ihm von ihren Sorgen und Ängsten zu erzählen. Sie hoffen, dass er sie und ihre Toten – wenigstens durch Filmaufnahmen – am Leben und in Erinnerung hält. Kinder erzählen ihm, was sie gezeichnet haben: Mordende Männer mit Gewehren, flüchtende Frauen, die ihr Hab und Gut zurücklassen müssen. Ein Mann schildert, wie er von den Dschandschawid hoch zu Pferd verfolgt wurde. Auf ihn geschossen haben sie, ihn niedergeschlagen und ihm schliesslich die Augen ausgestochen. Am Eindrücklichsten ist ein älterer Mann, der die Namen aller Toten aus einer bestimmten Schlacht vorliest. Es ist ein Ritual, eine Ehrbezeugung und verspätete Bestattung, zugleich aber auch ein Appell an den Zuschauer, endlich irgendwie Verantwortung zu übernehmen – damit diese Männer (mit Speeren haben sie gegen Kalaschnikows gekämpft) nicht umsonst gestorben sind und vergessen werden.
Olivier Zuchuat ist eine herausragende und eindrückliche Dokumentation gelungen, die man so schnell nicht vergessen wird! Sie macht deutlich, dass Film mehr als nur Unterhaltung sein kann, nein muss. Film hat hier endlich wieder einmal Funktion!