Interview: Matt Roehr (ex-Böhse Onkelz)
Silvan Gertsch - Nachdem sich die Böhsen Onkelz unter lautem Getöse aufgelöst haben, hat Gitarrist Matt Roehr eine Solokarriere gestartet. Vor kurzem erschien das Debüt "Barra Da Tijuca", anfang nächstes Jahr gehts auf Tournee und vorher beantwortet uns der Gitarrengott Fragen zu seiner Solo...
Fühlt sich deine Solokarriere wie ein Neubeginn an? Oder ist es einfach ein weiteres Kapitel, das im Leben des Matt Roehr aufgeschlagen wird?Beides. Ich kann zum einen die ganzen Ideen, die sich im Laufe der Jahre angestaut haben, verwirklichen, muss mich neu etablieren und sehen, ob das, was mir gefällt auch bei den Fans ankommt. Ich bin der erste, der nach dem Bandende mit seiner neuen Musik dasteht – und die unterscheidet sich dann auch noch sehr stark von den Onkelz! Das ist wirklich ein neues Kapitel, nicht nur für mich, sondern für uns alle! Aber ich bin es gewöhnt, der erste zu sein, ungewöhnliche Ideen zu etablieren und durchzusetzen.
Du hast ein Buch geschrieben „Meine letzten 48 Stunden mit den Böhsen Onkelz“. Erinnerst du dich an deine ersten 48 Stunden als „Matt Roehr“ – als dein Soloprojekt konkret wurde?An die ersten 48 Stunden vielleicht nicht, schon eher an die ersten 48 Wochen! Die Produktion zum Album war eine unheimlich intensive Zeit. Man kann fast sagen, dass sie mein Leben radikal geändert hat. Ich hatte ja schon kurz vor dem letzten Konzert der Onkelz angefangen, mir Gedanken über das Leben „danach“ zu machen, hatte dann aber erst meinen Umzug nach Uruguay zu organisieren. Also entstanden alle Titel in einer sehr emotionalen Zeit, das Bandende, der Umzug und so weiter. Ich habe die Musik einfach aus mir heraus fliessen lassen - und dann Bilanz gezogen. Ich musste mich selbst neu definieren, mein bisheriges Leben überdenken und Zukunftspläne schmieden.
Schon zu Onkelz-Zeiten habt ihr immer wieder spanische Elemente einfliessen lassen. Dein neues Album trägt nun einen portugiesischen Titel – was fasziniert dich an Lateinamerika?Die Herausforderung, die Freiheit, die Inspiration. Es ist wirklich ein ganz neuer „Way of Life“ den wir hier täglich leben. Jeder, der schon einmal hier war, wird verstehen, was ich meine. Alles ist unkomplizierter, vieles ist aber auch viel schwieriger als in Europa. Selbstverständliches, wie zum Beispiel der Kauf eines bestimmten Ersatzteils, kann zu einer Aufgabe für mehrere Monate werden, während sich vermeintlich unlösbare Probleme über Nacht erledigen.
Auch die Musik klingt stellenweise sehr lateinamerikanisch. Hast du dazu deine neue Heimat einfliessen lassen?Ja, denn ich habe hier schon unglaubliche Musiker erlebt! In Brasilien ist der Fundus an herausragenden Musikern einfach unerschöpflich. Es ist eine andere Szene, nicht so kommerziell wie in Europa, natürlicher, selbstverständlicher. Das hat mein Denken über die Musikszene in Europa und Nordamerika doch noch einmal radikal geändert. Es war wie eine Art Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte in der Musik, ein Fingerzeig zur richtigen Zeit.
Barra Da Tijuca hat musikalisch so gut wie gar nichts mit den Onkelz-Sachen zu tun. Darf man daraus schliessen, dass du dich bei den Onkelz untergeordnet hast und dich erst jetzt richtig austoben kannst?Ja und nein. Die Onkelz waren ein ganz anderes Ding, eine andere Welt mit total anderem Ansatz. In der Zwischenzeit sind viele Sachen passiert, ich habe mich weiterentwickelt. Diese Ansätze waren ja auch zu Zeiten der Onkelz schon da, wurden aber natürlich nicht so stark ausgelebt. Jedes der Bandmitglieder hatte einen etwas anderen musikalischen Geschmack, einen anderen Background. Das war ja auch unsere Stärke. Aber in einer Band muss man natürlich mit der Meinung der anderen Bandmitglieder leben - und muss sie akzeptieren, auch wenn man einige Dinge anders gemacht hätte.
Wie bist du auf Sänger Charlie Huhn gestossen? Und wie verlief die Zusammenarbeit mit ihm?Der Kontakt zu Charlie kam über Holger Hübner von ICS (Anm. vom Wacken Open Air). Er hat mir den Kontakt zu Charlies damaligem Manager vermittelt. Dann war eigentlich alles ganz einfach, wir haben uns ausgetauscht und ihm haben die Songs gefallen, ja er war sogar Feuer und Flamme für das Projekt. Ich finde, er ist ein sensationeller Sänger, eine Legende, ein Mann, der schon mit so vielen Großen gearbeitet hat. Und bei mir musste er zum ersten Mal in seinem Leben spanisch singen...
Dein Spitzname „Gonzo“ stammt von Ted Nugents Album „Double Live Gonzo“, das dich in jungen Jahren begleitet hat. Charlie Huhn war ja eine Zeitlang ein Teil von Ted Nugents Band. Schliesst sich somit für dich ein Kreis?Genau. Das hat mich an der Idee, mit ihm zu arbeiten, neben seinen Vorzügen als Sänger, am meisten Fasziniert. Unglaublich, denn er war doch für einige meiner Lieblingssongs als Teenager mitverantwortlich. Ausserdem hatte ich bei unserer Arbeit im Studio viele Gelegenheiten, ihn über die Zusammenarbeit mit Ted oder Gary Moore auszufragen. Ausserdem kommt aber noch eins hinzu: Die Frage, die sich mir von Anfang an stellte, war ja, wie meine Songs bei den Musikern, mit denen ich arbeitete, ankommen würden! Sprich: Sind sie gut genug?
War für dich von Anfang an klar, dass du die Lead-Vocals nicht selber übernehmen willst? Und wie löst du dies an deinen Live-Auftritten? Wird Charlie dabei sein?Ich würde gern singen, aber ich genüge im Moment meinen Ansprüchen nicht. Als ich die Songs geschrieben habe, war mir klar, dass nur ein Sänger wie Charlie in Frage kommt. Sie sind nicht einfach zu singen... Auf Tour werde ich die komplette Besetzung dabei haben, die auch das Album eingespielt hat! Darüber freue ich mich sehr, denn ich kann den Konzertbesuchern wirklich Weltklassemusiker präsentieren! Das wird fantastisch!
Zum Schluss noch zwei Fragen zu den Onkelz: Was ist das Wichtigste, das du aus deiner Zeit bei den Onkelz mitgenommen hast?Da gibt es wirklich sehr viel. Die Treue der Fans, die sind mit uns ja durch dick und dünn gegangen. Die Menschen, mit denen wir gearbeitet haben, die Erlebnisse mit der Politik, den Medien... Man kann sagen, dass mich diese Erfahrungen, positiv wie negativ, zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin.
Was vermisst du am meisten daran, dass es die Onkelz nicht mehr gibt? Im Moment eigentlich gar nichts!