DVD der Woche: Ostrov - Die Insel
Christina Ruloff - Die russische Seele hat Feuer gefangen: Die Geschichte eines einsamen Sünders und seiner Suche nach Vergebung verzaubert eine ganze Nation. Dabei dreht sich der Film um die ganz elementare Frage: Wie sollen wir leben?Im zweiten Weltkrieg begeht der junge Anatol eine schwere Sün...
Im zweiten Weltkrieg begeht der junge Anatol eine schwere Sünde: Aus Feigheit und Angst vor dem Tode verrät er seinen Kapitän. Er winselt um sein Leben und erschiesst den Freund, um seine eigene Haut zu retten. Nur ist diese nach dem Vorfall nichts mehr wert. Anatol zieht sich in ein Kloster zurück und verdingt sich dort als Heizer. Er schläft auf der Kohle, die er jeden Tag in schmerzender Mühsal auf einer Schubkarre durch die Kälte kurvt. Er isst und trinkt kaum und friert ständig. Er fährt jeden Tag mit einem Boot auf eine Insel, wo er für die Seele des von ihm ermordeten Freundes betet und diesen und Gott um Verzeihung für seine übermenschliche Sünde bittet. Kurz: Er lebt das in seinen Augen einzig angebrachte Leben für einen Sünder und wird durch seinen Starrsinn und seine irrsinnige Askese zum Heiligen, zum heiligen Sünder. Er vermag es, Menschen zu heilen und Wunder zu vollbringen, nur kann er sich nicht aus seinem Gefängnis, von seiner Sünde befreien.
Der Sünder Anatol gespielt von Rockstar Pjotr Mamonov.
Ostrov hat in Russland eine Leidenschaft ausgelöst, wie es ein Film kaum je vermag. Vom illegalen Bauarbeiter über den Studenten zum Spitzenmanager fühlen sich alle von diesem Film verzaubert. Er spricht offenbar aus, was eine ganze Gesellschaft fühlt und ersehnt. Der Rockstar Pjotr Mamonov verkörpert den entrückten Einsiedler; er selbst ist ein tief gläubiger Christ, der sich erst nach Absprache mit seinem Dorfpriester der Rolle würdig gefühlt hat. Worum geht es aber in Ostrov?
Pavel Lungin erzählt eine Heiligenvita. Der Antiheld Anatol, der sündige Emerit, wird nicht durch seine Wundertaten, sondern durch den Glauben an seine Schuld und sein konsequentes Handeln zum Heiligen. Die Geschichte wird nicht ohne Ironie erzählt. Anatol eckt im Kloster durch seine übermässige Askese an; er veräppelt seine bigotten Brüder, die im Glauben eine Art „Leiterspiel“ sehen, in dem es sich immer weiter rauszuangeln gilt und das Kloster als Karrierestation wahrnehmen. Wenn Anatol die schönen Stiefel seines Abtes verbrennt oder einen Dämon exorziert, dann wird das ohne Schockelemente gezeigt. Der Film verzichtet auf mystischen Zirkus: Er ist ernsthaft und komisch zugleich aber nie lächerlich.
Eindrückliche Bilder aus der russischen Eislandschaft, eine weitere Stärke von Ostrov.
Schliesslich wird auch überdeutlich, dass der Glaube nicht eines institutionellen Rahmens bedarf. Anatol ist in seiner Einsamkeit weit näher an Gott und der Erlösung als das ganze Kloster zusammen. Ihn beschäftigen denn auch die ganz elementaren Dinge: Wird seine Sünde je vergeben sein? Was ist mit seinem Kapitän passiert? Braucht er Angst vor dem Tod zu haben? An wen kann er sich denn wenden, wenn nicht an Gott? Gibt es eine Seele?Es sind – stellt man erstaunt fest – Fragen, die in der westlichen Welt schon lange keine Rolle mehr spielen, aber in Russland noch immer Gültigkeit haben. Aber gerade in unserer Zeit ist es mutig, sich zu fragen, wie man denn leben soll, ganz ohne eine Antwort zu geben.
Ostrov ist ein ruhiger, wunderbar gefilmter und spannender Film geworden, gegen die Zeit. Ein beeindruckendes Zeugnis.
Bewertung: 5 von 5
- Titel: Ostrov
- Land: Russland
- Genre: Heiligenvita
- Dauer: 114 Minuten
- Regie: Pavel Lungin
- Darsteller: Pjotr Mamonov, Dmitrij Djuschev, Viktor Suchorukov
Die Einsidelei Anatols.