Zwischen „geistiger Vergewaltigung“ und purer Magie
Michael Heger - Wenn bei herkömmlichen Musikfestivals die Musik langsam leiser gedreht wird, fängt am Melt! Festival die Party erst richtig an. Ein Rückblick auf 3 Tage Party in der Stadt aus Eisen.In seiner 13. Ausgabe war das Melt! Festival erstmals schon Wochen vor dem Event restlos ausver...
In seiner 13. Ausgabe war das Melt! Festival erstmals schon Wochen vor dem Event restlos ausverkauft. Doch was macht das Festival in der Nähe von Gräfenhainichen so attraktiv, dass Musikfreunde aus aller Welt nach Ferropolis – der Stadt aus Eisen - pilgern, um die Nacht zum Tag zu machen?
Zum einen ist es sicherlich das exquisite Line-Up, welches Indieperlen und Grössen der elektronischen Musik vereint. Ein weiteres Highlight ist die einzigartige Location zwischen gigantischen Stahlmonstern auf einer Halbinsel inmitten eines Baggersees. Und nicht zuletzt machen die tausenden Musikfreaks aus aller Welt das Festival zu einem besonderen Erlebnis. Sie strömen invasiv aus allen Herren Ländern herbei und lassen auf Ferropolis die Deutschen für 3 Tage zur Minderheit werden. Da kann es auch mal vorkommen, dass man um 8 Uhr Morgens auf dem Nachhauseweg von einer Truppe ausgeflippter Engländer mit sonderbar anmutenden Tanzeinlagen zu einem Tanzwettbewerb à la Dirty Dancing herausgefordert wird: „My crew versus your crew!?“
Magische Momente gab es auf den 6 verschiedenen Bühnen zu erleben. Allen voran der Auftritt von DJ Shadow, der die immensen Erwartungen zu übertreffen wusste und sich zwischenzeitlich von einer anderen Seite zeigte; er liess einige seiner Tracks zu mächtige Drum n Bass Orgien mutieren, die auch den hinterletzten Nerd im Rhythmus schwanken liessen. Als der Altmeister zum finalen Organ Donor anstimmte, war Gänsehautstimmung garantiert.
Bild: Tobias Vollmer auf www.meltfestival.de
Gänsehaut kam auch bei Chris Cunningham auf. Jedoch aus gänzlich anderen Gründen. Wer sich auf die Show des Videokünstlers einliess, welcher schon Musikvideos für Portishead, Madonna oder Björk produziert hat, erlebte einen der wohl verstörendsten Live-Momente der Musikgeschichte. Eine zwischen krank und pervers wankende, brachial-surreale Videoshow - in perfekter Harmonie verbunden mit Aphex-Twin-mässigen Sounds - liess die Horrorfilme der neusten Generation alt aussehen. Die Reaktionen reichten von "genial" und "seiner Zeit um zehn bis zwanzig Jahre voraus" bis zu „geistige Vergewaltigung“, wie ein Besucher seinem Unmut im Forum des Festivals freien Lauf liess.
Doch auch auf den kleineren Bühnen gab es einiges zu erleben. So zum Beispiel wie Ellen Allien um sieben Uhr morgens auf dem Sleepless-Floor die tanzende Masse mit treibenden Beats noch einmal zu Hochleistungen anspornte. Oder Four Tet auf der Strandbühne, begleitet von den Blitzen eines in wenigen Kilometern Entfernung vorbeiziehenden Gewitters, welches den verträumten, sphärischen Sounds des Engländers eine zusätzliche, besondere Note verlieh. Nicht zu vergessen der Auftritt von Health, welche im Intro-Zelt bei gefühlten 50 Grad zwischen elfenhaften Gesängen und Noiseskapaden pendelten, und so manchen Besucher mit offenem Mund zurück liessen.
Doch es gestaltet sich äusserst schwer, einzelne Höhepunkte aus den vielen herausragenden Konzerten und DJ-Sets herauszupicken. Dies würde zum Beispiel einem Jamie Lidell Unrecht tun, der bewies, dass er mit seinem neuen Album zu alter Stärke zurückgefunden hat, oder einem Riccardo Villalobos genauso wie einem Henrik Schwarz - mit Jesse Rose als Black Rose - , welche das Publikum in Ekstase mixten. Und dann wäre da noch dieses grandiose Abschlusskonzert auf der Hauptbühne mit den Trip-Hop-Urgesteinen von Massive Attack.
Nun, es ist wohl die Mischung die es ausmacht; die Mischung aus aussergewöhnlicher Musik abseits des Mainstreams, die wohl schönste Festivallocation Europas und die vielen partysüchtigen Musikfreaks aus aller Welt, welche für 3 Tage dem Stress des Alltags entfliehen wollen. Oder wie es wohl die Expertin für verbale Flatulenzen, Eva Herman ausdrücken würde:„Das ohrenbetäubende, stereotype Rave-Gehämmere, das nicht mehr im Geringsten etwas mit dem einstmaligen Begriff von Musik zu tun hat, zerschmettert ihnen über zahllose Stunden Trommelfelle und Nervenkostüme. (…) Sie wiegen sich in ekstatischer Verzückung im ohrenbetäubenden Lärm, Begriffe wie Sittlichkeit oder Anstand haben sich in den abgrundtiefen Bassschlägen ins Nichts aufgelöst.“ (Eva Hermann auf der Webseite des Kopp-Verlags zur Loveparade in Duisburg)