Interview mit Valerio Mieli
Christina Ruloff - Students.ch sprach mit Regisseur Valerio Mieli über seinen Film "Dieci Inverni" (zur Rezension geht es hier!), seinen Roman und über seine Liebe zu Venedig!Students.ch: Es gibt den Film und den Roman „Dieci Inverni“ – was war denn zuerst?Valerio Mieli: Zuerst war die Idee...
Students.ch: Es gibt den Film und den Roman „Dieci Inverni“ – was war denn zuerst?
Valerio Mieli: Zuerst war die Idee, die ich in einer Art Drehbuch – einer langen literarischen Erzählung – festgehalten habe. Dies dient dazu, die Geschichte zu verkaufen und einen Produzenten zu finden. Irgendwie ist die Erzählung aber zu Rizzoli – einem der grössten Verlagshäuser Italiens – gelangt; und die haben gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, die Geschichte in einen Roman zu verwandeln, etwas zu verlängern und auszubauen. Und ich habe einfach mal zugesagt. Dann erst habe ich mich ans eigentliche Drehbuchschreiben gemacht und während des Drehs und vor allem während des Schnittes habe ich das Buch geschrieben. Buch und Film sind also wie Brüder – aus derselben Idee entstanden. Keines der beiden Projekte ist aus dem anderen hervorgegangen. Sie sind sich entsprechend auch sehr ähnlich.
Wie wurde denn das Buch aufgenommen?
Das Buch wurde etwa zwei Wochen vor dem Filmstart veröffentlicht. Und ich habe oftmals im Internet gelesen, dass der Film zwar sehr schön sei. Das Buch habe aber noch besser gefallen! Das ist etwas merkwürdig. Ich meine, es freut mich sehr, weil ich nie daran gedacht habe, ein Buch zu schreiben. Ich bin Regisseur und nicht Schriftsteller. Daher habe ich – glaube ich – das Buch auch ohne grosse Ansprüche zu haben geschrieben. Alles in allem bin ich sehr zufrieden.
Gibt es denn grosse Unterschiede zwischen Buch und Film?
Der Unterschied liegt fast ausschliesslich im Medium – Film und Buch sind sehr verschieden. Die Story ist identisch. Im Buch gibt es noch die eine oder andere Episode mehr, für die im Film keine Zeit war. Die Charaktere sind sehr ähnlich. Er (die männliche Hauptfigur – im Film gespielt von Michele Riondino) ist im Buch ein bisschen mehr so, wie ich ihn mir zu Beginn vorgestellt habe. Die Charaktere sind dort in sich stimmiger. Aber im Film braucht man stärkere Gegensätze und daher wurde das geändert. Der Filmheld wird hier mehr zum Träumer; er ist sympathischer, dümmer und naiver – während er im Buch zwar intelligenter, aber auch etwas boshafter ist. Sie ist im Buch etwas treuer. Das sind aber alles Nuancen. Ein Unterschied ist, dass das Buch in der ersten Person geschrieben ist und man so abwechslungsweise seine und ihre Perspektive erzählt kriegt, kapitelweise oder auch Satz für Satz. Das erlaubt natürlich, dass man die Charaktere und ihre Motive und Gefühle viel besser kennen- und verstehen lernt. Ich habe mich selber stark mit den Charakteren identifiziert, und zwar mit beiden, wenn auch auf verschiedene Weise. Diese Art einen Schritt vorwärts und zwei zurück zu machen, kommt mir sehr bekannt vor. Und doch machen beide eine grosse Entwicklung durch.
"Ich habe mich selber stark mit den Charakteren identifiziert, und zwar mit beiden." (Valerio Mieli)
Wie bist Du denn auf die Idee gekommen, über zwei junge Menschen während zehn Jahren zu schreiben?
Ich wollte einen Film über ein Thema machen, das mir nahe liegt und das ich auch aus eigener Erfahrung kenne. Die Dinge im Film habe ich auf eine Art und Weise auch selber erlebt: Nicht eins zu eins – aber ich kenne die Emotionen, die man durchmacht, wenn man in diesem Alter ist und erwachsen wird: Man will etwas, aber man hat zugleich Angst und schiebt es auf. Das ist keine grosse Geschichte, aber doch etwas, was mich sehr berührt.
Warum handelt der Film in Venedig? Hast Du in Venedig studiert? [Valerio Mieli stammt aus Rom]
Ich habe nie in Venedig gelebt, aber ich kenne die Stadt ziemlich gut. Ich habe es mit Venedig ein bisschen so, wie Silvestro mit Camilla im Film: Wenn man dort leben würde, wäre es das Schönste auf der Welt! Natürlich weiss ich, dass das so nicht stimmt. Aber die Idee von einem magischen Ort, wo alles stimmt, ist faszinierend. Ich habe viele Jahre darauf gewartet, einen Film in dieser Stadt zu machen. Und ich habe mir so ein alternatives Leben geschaffen, in dem ich in Venedig bin, ohne dass ich wirklich dort zu leben brauche. Ich bin viel in der Welt herumgereist und habe einiges von China und Japan, den USA und Südamerika gesehen; aber Venedig ist der einzige Ort, der mir das Gefühl gibt, in einer anderen Welt zu sein, etwas ganz anderes zu erleben. Es ist für mich der einzige Ort im ganzen Universum, wo sich das Reale und das Irreale auf wunderbare Weise berühren.
"Venedig ist der einzige Ort, der mir das Gefühl gibt, in einer anderen Welt zu sein." (Valerio Mieli)
Wenn Du das so beschreibst, hat man das Gefühl sofort und unbedingt nach Venedig zu müssen...
Wenn Du dort bist, dann musst du ausgedehnte Spaziergänge unternehmen. Selbstverständlich muss man die berühmten Attraktionen einmal gesehen haben. Aber dann musst du die weniger touristischen Quartiere entdecken, die etwas abgelegenen Orte. Es gibt nichts Hässliches in Venedig. Vor allem der Norden ist spannend. Und die Inseln sind wunderbar. Natürlich musst du im Winter gehen, im Frühling ist Venedig auch ganz nett, aber im Winter ist es am schönsten.
Valerio Mieli wurde am 27. Januar 1978 in Rom geboren. Er war Visiting Scholar an der Columbia University und hat in Philosophie doktoriert. Im Jahre 2004 entschied er sich gegen eine wissenschaftliche Karriere um sich fortan dem Kino und der Fotografie zu widmen. Er besuchte die New York Film Academy und nahm Schauspielunterricht. Des weiteren arbeitete er als Drehbuchautor und Regieassistent. Im Jahr 2005 begann er seine Ausbildung als Regisseur am Centro Sperimentale di Cinematografia; seine Kurzfilme wurden an diversen Festivals gezeigt. „Dieci Inverni“ ist sein Erstling; der gleichnamige Roman ist bei Rizzoli erschienen.