Shots no. 28: Wem gehört der Tango?
Dominik Mösching - Da geh’ ich hin: Heute Abend wagt sich Jazzer Daniel Piazzolla im Gran Rex an die Werke seines Grossvaters Astor. Der Komponist, Bandoneon-Spieler und Tango-Reformer hatte Zeit seines Lebens angeeckt – bei jenen, die nicht begriffen, dass sich Kultur weder pachten noch in Schubladen stecken lässt.
Als Astor Piazzolla 1992 starb, war der argentinische Tango gerade daran, aus seinem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf zu erwachen. An diesem Wiederaufschwung hatte Piazzolla selber wesentlichen Anteil. Zunächst von vielen Traditionalisten geächtet, modernisierte er den mythischen Musikstil mit klassischen Kompositionen und Instrumenten. Eine Pionierarbeit, die den Tango bekanntlich auch für andere Genres wie den Elektro öffnete. Wenn nun Jazz-Schlagzeuger Daniel Piazzolla die Werke seines Grossvaters neu interpretiert, macht er das grosse Buch des Tango nicht kaputt, sondern fügt ihm wiederum neue Seiten hinzu. Er streicht nichts durch. Zeichnet höchstens hie und da etwas hinein. Und hält die Tangokultur so lebendig.
Das Gerücht, wonach Kultur etwas Statisches sei, hält sich halt einfach hartnäckig. Dabei ist es ja wirklich unplausibel zu glauben, dass etwas „schon immer da“ war und dass „wir es hier schon immer so“ gemacht haben (jedes Wort ein Fragezeichen, eigentlich). Oder dass sie, die Argentinier, sich schon immer mit dem Tango identifiziert haben. Vielmehr war das, was da im 19. Jahrhundert in den armen Hafenvierteln von Buenos Aires entstand, ursprünglich hoch verpönt. Die Musik der noch stark präsenten Nachkommen afrokaribischer Sklaven mischte sich mit derjenigen der Italiener und Polen, die immer zahlreicher einwanderten. Diese Mischung, die noch nicht Tango, sondern Canyengue hiess, spielte man in Bordellen und Kabaretts. Musik des Sündenpfuhls also. Auch, weil nicht selten Jungs miteinander tanzten. Dass damals auf drei Männer in der Stadt nur eine Frau kam, inspirierte eben nicht nur zu den typischen, melancholischen Texten über unerfüllte Liebe.
Erst über den Umweg Europa fand ein entsprechend entschärfter Salontango den Weg in die bürgerlichen Klassen Argentiniens. Grossvater Piazzolla selber hatte beim Musikstudium in Paris aus Angst um seinen Ruf zunächst verschwiegen, dass er Tango spielte, weil er dachte, dass dieser auch in Europa in die Unterwelt-Schublade gesteckt wurde. Ironisch, dass er sich Jahrzehnte später, als er den Tango aus der Erstarrung weckte, mit seinen Innovationen gerade gegen jene Oberschichten durchzusetzen hatte, die den Tango nun für sich reklamierten.
Und so prallen in der Geschichte des Tango Kulturen, Schichten und Menschen aufeinander. Ablehnung und Vereinnahmung stehen in einem subtilen Wechselspiel um die Definitionsmacht darüber, was Tango ist und wem er gehört. Noch heute streiten die Argentinier mit den Uruguayern über den Geburtsort des berühmtesten Tango-Sängers Carlos Gardel, und sogar die Franzosen beanspruchen ihn für sich. Ganz sicher aus Frankreich sind die in Europa wohl bekanntesten Elektrotango-Vertreter, Gotan Project. Gotan ist die Silbenumkehr von Tango in der Tradition der Pariser Banlieu-Sprache Verlan (verlan = lanver = l’envers) – und in der Tradition des Lunfardo, dem legendären Akzent aus den Gründertagen des Tango.
„Wer hat’s erfunden?“, fragt die Ricola-Werbung bekanntlich. Wem gehört der Tango? Schwer zu sagen. Oder doch nicht ganz: Seit zwei Jahren gehört er nämlich offiziell uns allen. 2009 wurde der Tango zum UNESCO-Welterbe der Menschheit erklärt. Ich bin gespannt, was Piazzolla Junior heute Abend aus unser aller Musik macht.
- Subtiles Wechselspiel: Ein Paar tanzt den Tango.
- Das Neue tun und das Alte nicht lassen.
Bisherige Shots From the Road findest du hier.