Kino: Anonymous
Gregor Schenker - War Shakespeare ein Betrüger? Mit dieser Frage bewirbt Roland Emmerich seinen neusten Film. Was dahinter steckt und ob "Anonymous" etwas taugt, klärt diese Kritik.
Eine besonders hartnäckige Verschwörungstheorie besagt, dass William Shakespeare gar nicht der Verfasser der ihm zugeschriebenen Werke gewesen sei. Diese Ansicht geistert schon seit Jahrhunderten durch die Kulturgeschichte und hat so prominente Fürsprecher wie Mark Twain oder Sigmund Freud gefunden. Das Hauptargument: Ein einfacher Durchschnittsbürger wie Shakespeare könne unmöglich ein derart grandioses Lebenswerk geschaffen haben – das müsse schon ein gebildeter Aristokrat gewesen sein. Was natürlich Quatsch ist. Die sogenannten Antistratfordianer stützen sich seit jeher auf fragwürdige Logik, wilde Vermutungen und das beharrliche Ignorieren von Fakten. Wie halt alle Verschwörungstheoretiker.
Jedenfalls hat sich auch Roland Emmerich zu den Shakespeare-Skeptikern gesellt und einen Film gedreht, um seine Ansichten zu verbreiten. Für ein Taschengeld von nicht einmal 30 Millionen Dollar, mit einem Minimum an Knalleffekten. Ein für ihn ganz untypisches Werk, das er sich mit seinen Blockbustern hat verdienen müssen und mit dem er durchaus Risiken eingeht. Eine Herzensangelegenheit. Er nimmt die Sache sogar so ernst, dass er vorletzte Woche extra nach Zürich kam, nicht nur an eine kostenlose Vorpremiere für Studenten, sondern auch für ein anschliessendes Podiumsgespräch mit der Anglistik-Professorin Elisabeth Bronfen. Zu dem Anlass relativierte Emmerich zunächst einmal den Wahrheitsanspruch des Filmes: Anonymous soll nicht zeigen, wie es damals war, sondern vor allem eine spannende Geschichte erzählen. Der Star-Regisseur und sein Drehbuchautor John Orloff (der schon mit Band of Brothers einen historischen Stoff populär bearbeitet hat) haben die geschichtlichen Fakten bewusst der Dramaturgie untergeordnet. Da nimmt man dem Film seine Prämisse schon nicht mehr so übel.
Ganz abgesehen davon, dass die Frage nach Shakespeares Urheberschaft nur eine Nebenrolle spielt. Eigentlich geht es um Edward de Vere, Earl of Oxford (Rhys Ifans), der mitten in ein politisches Komplott gerät: Queen Elizabeth I. (Vanessa Redgrave) ist alt und gebrechlich, die Frage nach der Nachfolge steht im Raum. William Cecil (David Thewlis), der machtgierige und skrupellose Berater der Königin, und sein nicht minder verabscheuungwürdiger Sohn Robert (Edward Hogg), favorisieren den schottischen König James VI.. Dagegen wehrt sich Robert Devereux, Earl of Essex (Sam Reid), ein illegitimer Sohn der Königin. Er hält sich für den besseren Kandidaten.
Edward de Vere schlägt sich auf die Seite von Devereux und versucht, auch das Volk für den jungen Grafen einzunehmen. Hierzu holt er den Theaterautor Ben Jonson (Sebastian Armesto) aus dem Gefängnis – der soll de Veres Theaterstücke unter dem eigenen Namen veröffentlichen. Jonson kann das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, der schmierige Schauspieler William Shakespeare (Rafe Spall) nimmt seinen Platz aber umso lieber ein. Die Massen feiern den frechen Emporkömmling und reagieren ganz so auf die Propaganda, wie de Vere sich das vorstellt: Die ganze Bevölkerung von London lehnt sich gegen Robert Cecil auf (der inzwischen das Erbe seines verstorbenen Vaters übernommen hat). Aber der bucklige Intrigant weiss sich zu helfen …
Das hört sich etwas kompliziert an und das ist es auch. In dem Bemühen, dem Zuschauer einen komplexen Politthriller zu bieten, verheddern sich Emmerich und Orloff ab und zu mit den zahlreichen Protagonisten, den doppelbödigen Intrigen und den ständigen Rückblenden. Es ist nicht immer einfach, der Handlung zu folgen, und sie strapaziert mitunter die Geduld. Hinzu kommen einige haarsträubende Unwahrscheinlichkeiten (der Film legt zum Beispiel nahe, dass de Vere Richard III während einer Nacht schrieb und innerhalb weniger Tage proben liess, um einen Aufstand anzuzetteln).
Auch mit dem Anspruch, Shakespeare (soll heissen, de Vere) die Referenz zu erweisen, überheben sich die Filmemacher ein bisschen. Anonymous soll ein grosses, tragisches Drama sein, aber es wird immer wieder spürbar, dass der Katastrophen-Regisseur kein Experte für subtiles Charakterkino ist. Liebesszenen oder dramatische Enthüllungen wirken oftmals unfreiwillig komisch und dick aufgetragen. Paare tauschen schwülstige Liebesschwüre aus, bei Niederlagen ziehen Gewitter auf.
Das soll nicht heissen, Anonymous wäre völlig ohne Reize. Der Bösewicht Robert Cecil zum Beispiel ist derart übertrieben gezeichnet, dass man ihn einfach lieb haben muss. Interessant ist zudem die unterschwellige Diskussion über das Verhältnis zwischen Politik und Kunst, das man im Film findet. Emmerich erklärte am Podiumsgespräch, dass Anonymous die Kunstschaffenden der Welt, auch die in Hollywood, dazu anhalten soll, sich politisch einzusetzen. (Wobei de Veres Beispiel nicht gerade optimistisch stimmt – zwar schafft er es, die Massen zu mobilisieren, aber zum Schluss hat er als weltfremder Feingeist keine Chance gegen den rücksichtslosen Realpolitiker Cecil).
Emmerich selbst rechnet sich übrigens hoch an, mit The Day After Tomorrow die politische Anerkennung des Klimawandels in den USA herbeigeführt zu haben. Das muss man ihm lassen: Er mag an die Shakespeare-Verschwörung glauben und er mag mit 2012 Weltuntergangsspinnern in die Hände gespielt haben, aber wenigstens ist er kein Klimaskeptiker.
Bewertung: 3 von 5
Interview mit Regisseur Roland Emmerich
Interview mit Hauptdarsteller Rhys Ifans
- Titel: Anonymous
- Land: England/Deutschland
- Regie: Roland Emmerich
- Darsteller: Rhys Ifans, Edward Hogg, Sebastian Armesto
- Verleih: The Walt Disney Company Switzerland
- Start: 10. November 2011