Verschoben oder nicht – das ist hier die Frage
Marco Büsch - In Oerlikon wird ein Backsteinhaus verschoben. Das Fernsehen ist da und es gibt Getränke und Würste zu kaufen. Also ein Riesenevent! Ich war dabei, aber gesehen habe ich nichts.
Da mein Studium grösstenteils im Gebäude neben diesem Backsteinhaus stattfindet und ich nun schon meine halbe Studiumskarriere mit dieser Baustelle leben musste, inklusive Lärmimmissionen, dachte ich mir, ich schaue kurz rein, ob sich der ganze Lärm und die Umstände überhaupt gelohnt haben. Nun stand ich zwischen geschätzten hundert Zuschauern und beobachtete das Haus. Sechs Zentimeter sollte es sich pro Minute bewegen. Auf dem Dach waren ein Haufen rote Ballone angebunden: Vielleicht wurde das Haus ja so transportiert, so quasi per Luftpost. Ha ha. Stimmt natürlich nicht: Das Haus wird per Hydraulikarm vor sich hergeschoben. Fragt bitte nicht, was das ist, ich bin kein Ingenieur. Für mich grenzt das an Magie. Das mit den Ballonen hätte ich jedenfalls eher verstanden.
So stand ich nun dort und starrte gebannt auf die Schienen, auf denen das Haus stand und den Haufen Bauarbeiter, die alle wichtige Dinge taten. Manchmal blinkte ein oranges Licht auf. Alle schauten mit grossen Augen dem Geschehen zu, aber ganz ehrlich: Ich sah nichts. Ich sah es einfach nicht. Ich bemerkte keine Bewegung des Hauses. Für mich stand es immer noch am gleichen Ort wie vor fünf Minuten und nicht 30 Zentimeter weiter vorne. Ich tat meinen Unmut kund, indem ich leise vor mich hin murmelte, dass man doch gar nichts sehe. Ein älterer Mann neben mir nahm dies sogleich als Chance wahr, mir den genauen Verlauf der Verschiebung zu erklären und wies darauf hin, dass das Haus nur verschoben werde, wenn irgendein Bauarbeiter unten irgendetwas mache, so genau habe ich das nicht verstanden. Ich nickte aber artig und sagte ab und zu „aha, so isch das“. Ab diesem Moment schüttelte er beinahe jede Minute meinen Arm und teilte mir mit, dass es nun wieder ein paar Zentimeter vorwärts gehe. Ich nickte nur immer und schaute angestrengt, aber ich sah es immer noch nicht. Ich wollte aber nicht als totaler Depp dastehen, wo doch alle anderen scheinbar die sanften Bewegungen des Hauses mitbekamen und so teilte ich mit erhobener Stimme den rundum stehenden Leuten mit, dass ich es jetzt also auch sehe, es sei der Wahnsinn. Der ältere Herr schaute mich zuerst irritiert an und meinte dann nur ganz trocken, dass es sich nun im Moment gerade nicht bewege, weil der Bauarbeiter dort unten dies und jenes zuerst machen müsse. Er stupste mich danach nicht mehr an und verschwand nach wenigen Minuten in der Menge.
Manchmal kann das Leben so peinlich sein. So muss der Kaiser sich also gefühlt haben im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Und das alles nur, weil ich vor dem älteren Mann nicht zugeben wollte, dass mir die Bewegungen des Hauses gar nicht auffielen. Ich meine, er hatte sich eine solche Mühe gemacht, mir alles voller Enthusiasmus zu erklären, da wollte ich ihm doch wenigstens ein bisschen Begeisterung und Verblüffung zurückgeben. Vielleicht wäre ein bisschen Ehrlichkeit angemessener gewesen. Es ist allgemein interessant zu sehen, wie schwer es einem fällt, sich vor wildfremden Leuten eine Blösse zu geben, Dinge nicht zu verstehen oder sie eben nicht zu sehen. Heute werde ich mir das Spektakel jedenfalls am Fernsehen anschauen, wenn überhaupt. Aber eigentlich ist diese Hausverschiebung überhaupt ein wenig überbewertet, also ich habe nichts gesehen und ich war dabei.
(Bildquelle: flickr.com, dhmann)