Kino: Laurence Anyways
Raphaël Rück - Xavier Dolan, der Geheimtipp aus Québec, ist längst in aller Munde. Er ist jung, er ist hip und seine Bilder triefen von Farbe. Doch trotz des Pomps beweist er wieder ein hohes Einfühlungsvermögen, diesmal in das Leben eines sich zur Frau wandelnden Mannes und seiner mitleidenden Freundin.
Hat die Kamera einmal die beengenden und scheinbar repetitiven Autoeinstellungen hinter sich gelassen, lässt Dolan die Hunde los: Grossaufnahmen von Gesichtern, Zeitlupen unterlegt von 90er-Songs, wie «Comme un ouragon» von Stéphanie de Monaco, aber auch modernerem Sound wie «A New Error» von Moderat (auch in «Shahada» zu hören).
Der 24-jährige Regisseur weiss hervorragende Bildattraktionen zu kreieren, wie zum Beispiel eine flamboyante Ballszene/Orgie, in der Fred wie auf einem Rollteppich durch den Saal schwebt. Oder eine spätere Stelle, als sie seine Gedichte liest (beide sind seit einigen Jahren getrennt) und sich plötzlich ein Wasserfall über das bürgerliche Wohnzimmer ergiesst. Kurz darauf folgt eine euphorische Wiederbegegnung an einem sonnigen Tag unter einem Regen von bunten Kleidungsstücken – ein Bezug auf Antonionis «Zabriskie Point»? Überzeugt euch selbst.
Dolan scheint jedes Bild mit krankhafter Akribie komponiert zu haben. Kleidermuster verschwimmen mit Tapetenmuster. Stets sucht der Regisseur eine unerwartete Einstellung, so zum Beispiel während des Wendepunkt-Geburtstags, als man Laurence spiegelverkehrt im Wasser eines Glases die Kerzen ausblasen sieht.
Dolans Stil ist in seinem dritten Film noch schriller als zuvor. Während er bereits in «J'ai tué ma mère» und «Les amours imaginaires» (siehe das Review von Christina Ruloff) grossen Wert auf ungewohnte Kadrierung und durchgestylte Bilder legte, wirkt sein neuster Film noch eine Spur «queerer» und ruft mit Mamie Rose und ihren Paradiesvögeln erneut nach Vergleichen mit dem spanischen Meister Pedro Almodovar.
Täuschende Oberfläche
Jean Philippe Tessé meint in den «Cahiers du Cinéma», Dolans Filme seien wie zu stark geschminkte Lippen, aus denen grausame Wahrheiten über Liebe, Gefühle und die Tücken des Lebens heraussprudeln. Tatsächlich stellt der Film eine wichtige Frage: Kann eine Beziehung den Geschlechtswandel überleben? Er regt den Zuschauer auch zum Nachdenken über die heutige Akzeptanz und das Verständnis von Transsexualität an. In Cannes interviewt, behauptete Dolan, die öffentliche Meinung habe sich seit den 90er-Jahren kaum verändert. Ist man von Erklärungsversuchen mit Label « psychische Krankheit » heute hinweggekommen? Und wo liegt der Zusammenhang mit Sexualität: Sind Transgenders hetero- bzw. homosexuell?
Ähnlich und um ein Vielfaches schwieriger als bei einem Coming Out scheint es Laurence mit den Reaktionen in seinem Umfeld zu haben. Seine Mutter, hervorragend gespielt von Nathalie Baye, möchte ihn erst zugunsten seines Vaters verstossen. Die Schwester seiner Freundin, Monia Chokri, bezeichnet ihn trotz ihrer eigenen Homosexualität als «abartig». Seine Arbeitskollegen entscheiden, dass er unter ihnen keinen Platz mehr hat.
Der Film zeigt, wie sich Laurence zwischen 1989 und der Jahrtausendwende völlig neu erfinden muss. Dabei ist Melvil Paupauds Leistung lobenswert. Langsam und subtil lässt sich die Verweiblichung seines Äusseren und seines Auftretens beobachten. Die Geschichte bietet eine spannende Reflexionsgrundlage über die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung im Kontext einer Amour fou.
Dolan ist mit «Laurence Anyways» bereits zum dritten Mal im renommierten «Un certain regard» in Cannes vertreten. Seine Hauptdarstellerin, Suzanne Clément, erhielt dort den Preis als Beste Darstellerin.
- Dauer: 2h 39 Min.
- Regie: Xavier Dolan
- Darsteller: Melvil Poupaud, Suzanne Clément, Nathalie Baye, Monia Chokri
- Produktionsländer: Frankreich, Kanada
- Kinostart: 14.03.2013