Vier Minuten
Christina Ruloff - Monica Bleibtreu und Hanna Herzsprung liefern sich als Klavierlehrerin und Schülerin ein grossartiges Duell. Das bildgewaltige Werk vom Chris Kraus ist der beste und schönste deutsche Film seit Jahren. Vier Minuten lebt von den Bildern, der Stimmung und dem grandiosen Schnitt,...
Vier Minuten lebt von den Bildern, der Stimmung und dem grandiosen Schnitt, die Luc Besson an seine Arbeit erinnern.
„Ich halte Sie für niederträchtig, das sollten Sie wissen. Aber Sie haben eine Gabe und damit haben Sie eine Pflicht. Ihre Gabe zu erhalten. Ich kann Ihnen meine Hilfe anbieten. Diese Hilfe wird sich nicht auf Ihre Person beziehen, niemals. Ich kann Ihnen helfen, dass Sie besser spielen. Nicht dass Sie besser werden.“
'Ich halte Sie für niederträchtig. Aber Sie haben eine Gabe.' Ein Angebot von Lehrerin zu Schülerin.
Die Kamera schwebt über graue, ja farblose Mauern, vorbei an vergitterten Fenstern, und schwenkt über den grossen und strengen Gebäudekomplex – das Frauengefängnis. Der oben zitierte Satz stammt von Traude Krüger, der preussischen und unerbittlichen Klavierlehrerin, die seit über 60 Jahren in dieser Institution Klavierunterricht anbietet. Sie richtet sich an Jenny von Loeben, die junge, intelligente, unberechenbare und (selbst)zerstörerische Insassin, die wegen Mordes sitzt und offenbar ein beträchtliches Talent fürs Klavier besitzt.
Das Angebot kommt nicht von ungefähr, doch der Zeitpunkt überrascht und schockiert die Anstaltsleitung. Eben hat Jenny unmotiviert, ja scheinbar zu ihrem Vergnügen einen Wärter, einen Musikfreund und Bewunderer Krügers, spitalreif geprügelt und ist uneinsichtig. Doch für die starre alte Frau zählt nur die Musik und eine Freundschaft beginnt.
'Für die Art Unterricht, die ich Ihnen anbiete, ist Demut unerlässlich. Demut ist die Regel Nummer Eins. Sie werden tun, was ich Ihnen sage!'
Vier Minuten erzählt nicht von der „wunderbaren Freundschaft“, sondern von einem spannungsgeladenen, gnadenlosen und zermürbenden Duell von unerhörter Intensität. Das Duell führt zum Aufarbeiten und Auftauen, und schliesslich zum Vertrauen und Anerkennen der eigenen Person und der Vergangenheit.
(Selbst)Heilung durch Kunst, ja durch Musik, ist ein wunderbares und dankbares Motiv. Sie ßgeht noch einen Schritt weiter als die Heilung durch Sport, da die Musik (Mozart, Beethoven, Bach und vor allem Schumann) den Menschen auf einer höheren Ebene fasst, berauscht, befreit und erhöht. Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus weiss das und setzt die Musik als zentrales Motiv genial ein. Sie durchdringt und bestimmt die hervorragenden Bilder, die einem, wenn der Film längst vorbei ist, noch lange in Erinnerung bleiben.
Kamera (Judith Kaufmann) und Schnitt (Uta Schmidt) gehören zu dem Besten, was seit Langem auf der Leinwand zu sehen war und machen den Film zu einer intensiven Fahrt in Bild und Ton. Luc Besson, der den Film am Shanghai International Filmfestival als besten Film ausgezeichnet hat, hat sich wohl streckenweise an seine eigene Arbeit erinnert gefühlt.
Das alles, Spannung, Bilder, Musik und die hervorragenden Schauspielerinnen Monica Bleibtreu und Hanna Herzsprung – natürlich in Traumrollen für jede Schauspielerin – können nicht über die konzeptuellen Schwächen hinwegtäuschen, die den Film gegen Enden mit allzu viel Sinnsuche und Vergangenheitsbewältigung belasten. Das ändert jedoch nichts daran, dass Vier Minuten der beste, aufregendste und zugleich schönste deutsche Film seit Jahren ist, und mit der europäischen Konkurrenz locker mithalten kann.
Bewertung: 4 von 5
Der Alltag und Figuren im Gefängnis werden weder verklärt noch verurteilt.
Originaltitel: Vier Minuten
Land: D
Genre: Drama
Dauer: 112 Minuten
Regie: Chris Kraus
Darsteller: Hanna Herzsprung, Monica Bleibtreu, Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabai
Verleih: Filmcoopi Zürich AG
Kinostart: 10.5.2007