Klassentreffen: Hoffentlich ohne Anna Odell
Marco Büsch - Nach neun Jahre ist es soweit: Ich sehe meine alten Gspänli aus gemeinsamen Schulzeiten wieder. Es wird gelacht, geredet und Erinnerungen werden ausgetauscht. Nur den Anna Odell macht hoffentlich niemand.
Klassentreffen sind immer eine Reise in die eigene Vergangenheit. Man fragt sich, was wohl aus den anderen geworden ist. Trotz den ganzen social media Sachen weiss man es am Ende ja doch nicht so richtig, ausser bei den paar wenigen, denen man noch ab und zu über den Weg läuft. Sind die Gescheiten nun alle Studierte? Sind die Sportlichen Sportler geworden? Die Schönen Models? Haben manche vielleicht schon geheiratet? Redet man mit denen darüber, wie sie für diesen Abend noch einen Babysitter organisieren mussten? Ich weiss es nicht, aber zwangsläufig wird sicher ein Vergleich stattfinden: Wer hat es wohl wie gut gemeistert? Von wem hätte man mehr erwartet, von wem ist man überrascht? Bin ich selbst vielleicht eher eine Enttäuschung für die anderen? Hat man sich verändert? Das können wohl die Leute am besten einschätzen, welche einen vor neun Jahren das letzte Mal gesehen haben. Ich weiss noch, dass ich mich damals von einigen Leuten in der Klasse nicht verabschiedet hatte, weil man sich am Nachmittag noch im Schwimmbad treffen wollte, ich dann aber nicht hinging, weil ich lieber mit einem Kumpel in die Stadt gehen wollte und mir dachte, dass ich diese Leute sowieso ab und an sehen werde, Zürich ist ja nicht so gross. Nun, dieses Treffen wird nach neun Jahren das erste Mal sein, dass ich sie wiedersehen werde. Und ich werde versuchen, mich dieses Mal bei jedem anständig zu verabschieden, sonst hätte ich ja in den letzten neun Jahren kaum etwas gelernt.
Aber diese Gefahr ist gross: Man hat vielleicht viel dazugelernt in all den Jahren und fällt dann trotzdem wieder in alte Gewohnheiten zurück wie zur Schulzeit. Die gleichen Dynamiken entstehen wieder, die Grüppchen bilden sich, die Einzelgänger bleiben alleine, man wird wieder zum Kind. Hier würde vielleicht eine Art Speed-Dating viel helfen: Jeder muss mit jedem zwei Minuten reden, dann wird zum Nächsten gewechselt. So würde ein Rahmen geschaffen, innerhalb dessen man mit jedem mindestens einmal reden muss. Sogar mit denen, mit welchen man an diesem Tag wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt spricht. Aber auch wenn es derartiges vielleicht nicht geben wird, habe ich mir vorgenommen, zumindest teilweise aus meinem angestammten Grüppchen auszubrechen und mit ehemaligen Mitschülern zu sprechen, mit welchen ich sonst kaum zu tun hatte. Vielleicht werde ich sogar ein wenig wehmütig, weil man vielleicht doch mehr gemeinsam hat, als man vor neun Jahren angenommen hatte. Vor was ich trotz allem ein wenig Bammel habe: Ich habe letzte Woche «The reunion» von Anna Odell geschaut, einer Filmkünstlerin, welche bekannt wurde mit einem Film, bei dem sie ihren eigenen Selbstmordversuch auf einer Brücke nochmals nachspielt und aufarbeitet. In «The reunion» geht es dagegen um ein Klassentreffen: An das wirkliche Klassentreffen wurde sie gar nicht eingeladen und so dreht sich der Film darum, was geschehen wäre, wenn sie teilgenommen hätte. In einem zweiten Teil konfrontiert sie die ehemaligen Klassenkameraden mit dem «was wäre, wenn»-Film, welcher ziemlich heftig ausfällt, denn Odell hält an diesem Treffen eine ungeschönte Rede über ihre Schulzeit als Mobbingopfer und wird schlussendlich von den anderen vor die Tür gesetzt. Schon während des Films kommt man selbst ins Grübeln, ob es das in der eigenen Klasse auch gegeben hat, ob man selbst Opfer oder Täter war. Besonders wenn ein Klassentreffen ansteht. Klassentreffen sind ja in erster Linie dazu da, in gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen, wobei dann jedem wieder andere Details geblieben sind und man das grosse Ganze wie ein Puzzle zusammensetzen muss. In der Einladung zu meinem Klassentreffen war zum Beispiel von einer Nachtkerze die Rede, wobei ich mich partout nicht erinnern kann, was es mit dieser auf sich hatte. Da wird mir wohl jemand anders dann auf die Sprünge helfen müssen. Neben all den guten Erinnerungen, gibt es aber sicher auch solche, die mit den Jahren eher verdrängt wurden, wie es das Gehirn ja so gerne macht. Mir wurde zum Teil schon von Streichen erzählt, die mir gespielt wurden, welche als ganz schlimm empfunden wurden, ich konnte mich aber kaum erinnern und wenn, dann nicht mit einem wirklich negativen Gefühl. Andererseits wurde mir auch von Streichen berichtet, bei denen ich dabei gewesen sein soll, welche ich aber anscheinend geschickt verdrängt habe, weil mir das schon ein wenig peinlich war. Das Gehirn ist also kein sicherer Freund bei lückenlosen Erinnerungen an die Vergangenheit und so bleibt doch ein kleines, aber mulmiges Gefühl, dass vielleicht doch jemand den Anna Odell machen könnte an unserem Klassentreffen. Im Gegensatz zu den meisten Personen im Film würde ich aber versuchen, mir alles anzuhören und mich gegebenenfalls entschuldigen, ansonsten wäre ich ja kaum besser als der neun Jahre jüngere Jugendliche, der ich damals war.
Ich schaue also mit einem freudigen und einem ein wenig ängstlichen Auge auf dieses Klassentreffen. Eine besondere Freude wird mir sein, unseren alten Klassenlehrer wiederzusehen, nur um ihm zu zeigen, dass doch ein wenig etwas aus mir geworden ist. Auch wenn mich seine Meinung überhaupt nicht mehr interessiert. Imfall. Und ich will von ihm dann seinen bekannten Ausspruch «Das kann doch nicht sein!» hören. Dann vielleicht zum ersten Mal in einem positiven Sinne. Und dann vielleicht auch gleich noch sein nicht minder bekanntes «Und tschüss! Kannst gleich gehen!», wenn er jemanden vor die Tür stellte. Wobei ich mich dieses Mal nicht vor die Tür stellen lassen werde, garantiert nicht! Es wird auf alle Fälle ein spannendes Treffen, denn dies sind ja auch oft kleine Therapieabende mit dem Thema «Aufarbeitung der eigenen Schulzeit».
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