Rollenerwartungen im Coop
Marco Büsch - Wenn wir an bestimmte Orte gehen, füllen wir meist bestimmte Rollen aus und erwarten dafür entsprechend behandelt zu werden. Insbesondere, wenn wir im Coop einkaufen, hat die Verkäuferin ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen. Oder doch nicht?
Sofern ich die Soziologen (insbesondere Dahrendorf) richtig verstanden habe, besitzt die Verkäuferin im Coop eine soziale Position und diese ist, oh Wunder, die einer Verkäuferin. Damit einher geht ihre soziale Rolle, die gesellschaftlichen Erwartungen, welche in dieser Position an sie gerichtet werden. In ihrer Freizeit ist ihre soziale Position vielleicht die einer Ehefrau oder einer Mutter, je nach Kontext, aber im Coop hinter der Kasse ist ihre soziale Position in erster Linie diejenige einer Verkäuferin. Und da gehört es dazu, nach der Supercard zu fragen, mich zu fragen, ob ich nicht vielleicht auch noch ein Foiferli hätte und vielleicht noch, ob ich die Quittung wolle. Das klingt vielleicht ein wenig harsch und da gehört wohl schon noch einiges mehr dazu, aber das ist bei folgender Geschichte weniger von Belang. Viel mehr wollte ich darlegen, dass die Gesellschaft von einer Verkäuferin ein bestimmtes Verhalten erwartet und vor allem auch andere Verhaltensweisen ausdrücklich nicht erwartet, beziehungsweise sie sogar nicht wünscht. Kommen wir aber zur Sache.
Ich stand also letzte Woche in der Schlange vor der Coopkasse und zwei Kunden waren noch vor mir: Eine junge Frau, welche ganz viele verschiedene Schokoladenpackungen auf das Förderband gelegt hatte und eine Mutter mit Kind, welche Milch und einige für die Geschichte unwichtige Dinge einkaufen wollte. Die Verkäuferin wirkte zunächst ein wenig abwesend, bis sie vom Einpiepsen der Schokoladenriegel aufsah, die junge Frau anschaute und zu ihr meinte, dass das schon ziemlich viel Schokolade sei für so eine junge schöne Frau wie sie. Schokolade mache nämlich dick. Also aufgepasst! Die junge Frau war gehörig überrascht und lächelte erst nur gezwungen, antwortete aber kurz darauf, dass es nicht nur für sie sei, sondern fürs Büro. Ein Abschied, wissen Sie. Die Verkäuferin nickte wissend, während die junge Frau sich vermutlich fragte, warum sie sich hier an der Coop-Kasse eigentlich für ihren Einkauf rechtfertigte. Vielleicht aber auch nicht und sie war nur überrascht ob so viel ungewohnter Kommunikation mit einer Verkäuferin. Aber da war der Moment schon vorüber und die Mutter mit Kind war an der Reihe. Sie lief sogleich an der Kasse vorbei und begann den Einkauf in Tüten zu verpacken. Die Verkäuferin handelte wiederum nicht der Norm entsprechend und nahm sich statt der ersten paar Produkte auf dem Förderband die Packung Milch, welche viel weiter hinten lag. Sie piepste die Packung ein und überreichte es der Mutter wie ein Geschenk mit den Worten, die Milchpackung solle man immer zuerst einpacken, weil sie nicht zerbrechlich sei, dafür schwer und ansonsten andere Lebensmittel zerdrücken würde. Die Mutter nickte nur stumm, sich sichtlich nicht im klaren, ob das ein Gag der versteckten Kamera sei oder am Ende sogar purer Ernst. Ohne Kommentar packte sie alles ein und verliess dann mit ihrem Kind den Laden, ohne Kommentar, obwohl sie eine Verkäuferin soeben behandelt hatte, als wäre sie zwölf. Dass jemand aus seiner Rolle ausbricht kann schon mal vorkommen, aber in einem Coop würde man so ein rollenfernes Verhalten wahrscheinlich zuletzt erwarten, daher könnte die solcher artige Verblüffung gerührt haben.
Es war faszinierend zu sehen, wie Menschen reagieren, wenn sie nicht ihrer Rolle entsprechend behandelt werden, denn immerhin gibt es in unserer Gesellschaft soziale Konventionen und zu denen gehört auch, dass eine Verkäuferin mit ihrem Kunden eine rein geschäftliche Beziehung pflegt und dazu gehören sicherlich keine eher kumpelhaften Kommentare (ausser man wäre ein Kumpel, aber das wäre ein anderes Rollenverhältnis). Die Mutter reagierte wie wahrscheinlich die meisten Menschen reagieren würde: Sie ignorierte das ungewöhnliche Verhalten einfach. In einer Grossstadt trifft man viele seltsame Leute, wieso nicht auch im Coop, wird sie sich wohl gedacht haben. Die junge Frau aber reagierte überraschend positiv, denn auch sie verliess kurzweilig das klassische Rollenverhältnis und erzählte, die Schokolade sei für einen Abschied im Büro, was sie ansonsten wahrscheinlich nicht erzählt hätte. Es kann also durchaus erfrischend sein, mal aus den angestammten Rollen auszubrechen, solange man damit rechnet, dass die Menschen wahrscheinlich nicht immer wohlwollend reagieren werden, denn Erwartungen sind Erwartungen und die wollen in der Mehrheit der Fälle erfüllt werden.
Man kann diese Verkäuferin für unverschämt halten, weil es wohl kaum zu ihrem Arbeitsauftrag gehört, zu wissen, weshalb jemand welche Ware wie einpackt, solange er sie bezahlt, für mich aber ist diese Verkäuferin schlicht eine Bereicherung meines eingerosteten Einkaufs-Alltag, ist doch ab jetzt jeder Einkauf ein Abenteuer! Es plagt mich nur eine kleine Angst. Es könnte sein, dass ich eines Tages vom Zuschauer zum Opfer werde und die Verkäuferin einen Kommentar loslässt, wie: «Was?! Schon wieder Fleisch?! Aber sie haben doch schon die ganze Woche durch immer Fleisch eingekauft!» – Ich meine, was werden die Leute von mir denken? Was werde ich antworten? Besonders jetzt, da ich neu in ein Hipsterclubmateveganer-Viertel gezogen bin. Aber davon ein andermal mehr.
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