Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand
Claudia Maag - Der bekannte «Öko-Terrorist» schmiss das Gymnasium und zog auf die Alp. In den 1970er-Jahren sprengt er Elektrizitätsanlagen. 10 Jahre soll er dafür ins Gefängnis. Er flieht; taucht unter. Ein Jahrzehnt später wird er gefasst und wegen Mordes verurteilt. Nun erscheint seine Biografie.
Marco Camenisch, 1952 im Kanton Graubünden geboren, wollte keine Karriere machen. Obwohl einer der Klassenbesten, schmiss er das Gymnasium. Camenisch sagt dazu: «(...) Für einen wie mich galt gegen Ende des Gymnasiums die Formel: Matura-Studium-Elitebildung-Machtträger in Staat und Wirtschaft – also genau das, was ich nicht wollte (...).» Er wollte das «echte» Leben kennenlernen. Deshalb beginnt er als 20-Jähriger zu jobben. Als Hilfsarbeiter, in einem Architekturbüro, in einer Reitschule. Seine Arbeitgeber sind sehr zufrieden. Nach einem mehrmonatigen Einsatz für ein Fernstudium der AKAD geht Camenisch im Sommer 1973 als Hirt auf die Bodenalp. Er ist einer von vielen Jugendlichen in den 70er- und 80er-Jahren, die im Leben auf der Alp einen «dritten Weg» zwischen Kapitalismus und Kommunismus sehen.
Vierzig Jahre nach dem vorzeitigen Verlassen der Evangelischen Mittelschule Schiers sitzt Journalist Kurt Brandenberger vor Camenisch. Es ist Mai 2012, Camenisch ist 60 Jahre alt. Sie sitzen im Besuchsraum der Strafanstalt Lenzburg. Er trägt ein weisses T-Shirt, das angegraute Haar hat er zusammengebunden. Es werden über zwanzig mehrstündige Gespräche während zweieinhalb Jahren folgen. Brandenberger spricht in dieser Zeit auch mit Camenischs Tochter, seiner Ehefrau, mit Lehrern, Freunden, Jugendlieben, Komplizen, Genossen und Gefährtinnen.
Die so entstandene Biografie «Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand» ist eine Mischung aus Krimi, tragischer Liebesgeschichte und der Geschichte eines Überzeugungstäters. Manchmal erinnert sie inhaltlich an eine Tragödie – allerdings ohne Katharsis (Lerneffekt und kritische Distanznahme). Des Weiteren bietet das Buch Einblicke in den Knastalltag. Falls du in den 80er-Jahren oder später aufgewachsen bist: Hier findest du ein abwechslungsreiches Zeitdokument der 70er- und der 80er-Jahre. Anti-AKW-Kämpfe, autonome Jugendzentren, Jugendkrawalle («Züri brännt!», Hier gehts zu einem Züri brännt-Video), der Trend, sich auf der Alp in Kommunen eine selbstverwaltete Existenz aufzubauen. Aber auch über die Verfilzung von Staat, Wirtschaft und Justiz, die Isolationshaft und den Schnüffelstaat.
Keine Fotos, trotzdem lebendig
Was man vergebens sucht, sind Fotografien. Untypisch für eine Biografie. Doch es gelingt Brandenberger, die Lebensgeschichte des Anarchisten durch Ausschnitte von Interviews, Tagebüchern, Briefen, Camenischs Erzählungen etc., lebendig zu machen. Auch die in den Anhang ausgelagerten Hintergrundinformationen sind lesenswert.
Gegen Ende des Buches stellt sich leichte Müdigkeit ein. Das hat mit den (moralischen) Zitaten Camenischs (Briefe, seine Artikel, Erklärungen) zu tun. Um es mit den Worten seiner Tochter Lena auszudrücken: «Seine Litanei über das Böse in der Welt und wie schlimm alles sei, war manchmal schwer zu ertragen.» Dennoch muss man anerkennen, dass er trotz widrigsten Umständen und Justizwillkür bis heute seinen Überzeugungen treu geblieben ist. Es mag verwerflich klingen, doch die Tragik seiner Lebensgeschichte mit dem scheinbar unabwendbaren Verlauf und Camenischs Unbeugsamkeit sind das, was die Faszination an der Person und diesem Buch ausmacht.
Drakonische Urteile
Für jene, die die Causa Camenisch nicht kennen oder ihr Wissen auffrischen möchten, hier eine Übersicht:
Nach mehreren Sprengaktionen an Anlagen der Elektrizitätskonzerne werden Camenisch und seine Komplizen verhaftet. Das Kantonsgericht Graubünden in Chur wertet die Sprengstoffanschläge als Gewaltdelikt, das vom Staat streng geahndet werde. Solidarität wird in Zürich, Bern und Basel via Flugblätter verbreitet: «Die Klassenjustiz schlägt zu!». Durch den Prozess wird Marco Camenisch, der Sprengstoffattentäter, zu einem «Che Guevara» der Zürcher Bewegung. Das Urteil: 10 Jahre. Camenisch gelingt es, aus der Justizvollzugsanstalt Pöschwies (Regensdorf) zu entkommen – er verschwindet im Untergrund.
Ein Jahrzehnt später wird in Brusio ein Grenzwächter erschossen. Camenisch wird in Italien aufgegriffen und schiesst bei der Verhaftung einem Polizisten in den Arm. Der Schweizer wird angeklagt und im Frühling 1993 «im Namen des italienischen Volkes» wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Sprengstoffanschlägen, illegalem Waffenbesitz, Fälschung und Hehlerei zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt.
2002 erfolgt die Auslieferung in die Schweiz. Die Zürcher Justizbehörden leiten (u. a.) Strafuntersuchungen wegen Mord an Grenzwächter Kurt Moser ein. Es folgt ein Indizienprozess, der Lücken aufweist. Urteil: Camenisch wird wegen Mordes verurteilt (Freispruch für anderen Vorwurf). Die verlesene Urteilsbegründung entspricht der Anklage, fällt beim Strafmass allerdings schärfer aus. Zwar forderte der Staatsanwalt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, ging aber davon aus, dass dem Angeklagten die in Italien verbüssten 12 Jahre angerechnet werden. Hätte Camenisch lebenslänglich erhalten, wäre er in etwas mehr als sieben Jahren – bei guter Führung und Prognose – freigekommen.
Doch mit den 17 Jahren Zusatzstrafe erhöht sich das Strafmass auf 29 Jahre. Das Schweizer Strafgesetz sieht eine Maximalstrafe von 20 Jahren vor. Zwei Jahre später weist das Bundesgericht die Vorinstanz an, das Strafmass zu reduzieren. In einem erneuten Prozess, 2007, wird das Strafmass von 17 auf 8 Jahre herabgesetzt.
Zukunft als freier Mann?
Im Mai 2012 hatte Camenisch zwei Drittel seiner Strafe verbüsst. Gemäss Schweizerischem Strafgesetzbuch (StGB) ist ein Gefangener dann bedingt in die Freiheit zu entlassen, sofern gute Führung vorliegt und davon ausgegangen werden kann, dass er nicht rückfällig wird. Die Zürcher Justiz verwehrt ihm die vorzeitige Entlassung wegen «anhaltender Gewaltbereitschaft». Eine Beschwerde des Anwalts wird zurückgewiesen; auch die nächste Instanz geht nicht darauf ein.
Seine komplette Strafe wird Marco Camenisch im Frühling 2018 abgesessen haben. Er wird dann 66 Jahre alt und seit seinem 30. Lebensjahr eingesperrt oder auf der Flucht gewesen sein. Fast 10 000 Tage und Nächte habe er dann hinter Gittern verbracht.
Wie wird es ihm nach seiner Entlassung ergehen? Wird er in unserer heutigen schnellen, noch kapitalistischeren, hochtechnologisierten Welt zurechtkommen?
Die Buchvernissage findet am Donnerstag, 16. April, um 20.00 Uhr im Theater Neumarkt in Zürich statt. Moderation: Stefanie Hablützel, Radio SRF. Aus dem Buch lesen: Yanna Rüger und Martin Butzke (Neumarkt-Ensemble).
Vierzig Jahre nach dem vorzeitigen Verlassen der Evangelischen Mittelschule Schiers sitzt Journalist Kurt Brandenberger vor Camenisch. Es ist Mai 2012, Camenisch ist 60 Jahre alt. Sie sitzen im Besuchsraum der Strafanstalt Lenzburg. Er trägt ein weisses T-Shirt, das angegraute Haar hat er zusammengebunden. Es werden über zwanzig mehrstündige Gespräche während zweieinhalb Jahren folgen. Brandenberger spricht in dieser Zeit auch mit Camenischs Tochter, seiner Ehefrau, mit Lehrern, Freunden, Jugendlieben, Komplizen, Genossen und Gefährtinnen.
Die so entstandene Biografie «Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand» ist eine Mischung aus Krimi, tragischer Liebesgeschichte und der Geschichte eines Überzeugungstäters. Manchmal erinnert sie inhaltlich an eine Tragödie – allerdings ohne Katharsis (Lerneffekt und kritische Distanznahme). Des Weiteren bietet das Buch Einblicke in den Knastalltag. Falls du in den 80er-Jahren oder später aufgewachsen bist: Hier findest du ein abwechslungsreiches Zeitdokument der 70er- und der 80er-Jahre. Anti-AKW-Kämpfe, autonome Jugendzentren, Jugendkrawalle («Züri brännt!», Hier gehts zu einem Züri brännt-Video), der Trend, sich auf der Alp in Kommunen eine selbstverwaltete Existenz aufzubauen. Aber auch über die Verfilzung von Staat, Wirtschaft und Justiz, die Isolationshaft und den Schnüffelstaat.
Keine Fotos, trotzdem lebendig
Was man vergebens sucht, sind Fotografien. Untypisch für eine Biografie. Doch es gelingt Brandenberger, die Lebensgeschichte des Anarchisten durch Ausschnitte von Interviews, Tagebüchern, Briefen, Camenischs Erzählungen etc., lebendig zu machen. Auch die in den Anhang ausgelagerten Hintergrundinformationen sind lesenswert.
Gegen Ende des Buches stellt sich leichte Müdigkeit ein. Das hat mit den (moralischen) Zitaten Camenischs (Briefe, seine Artikel, Erklärungen) zu tun. Um es mit den Worten seiner Tochter Lena auszudrücken: «Seine Litanei über das Böse in der Welt und wie schlimm alles sei, war manchmal schwer zu ertragen.» Dennoch muss man anerkennen, dass er trotz widrigsten Umständen und Justizwillkür bis heute seinen Überzeugungen treu geblieben ist. Es mag verwerflich klingen, doch die Tragik seiner Lebensgeschichte mit dem scheinbar unabwendbaren Verlauf und Camenischs Unbeugsamkeit sind das, was die Faszination an der Person und diesem Buch ausmacht.
Drakonische Urteile
Für jene, die die Causa Camenisch nicht kennen oder ihr Wissen auffrischen möchten, hier eine Übersicht:
Nach mehreren Sprengaktionen an Anlagen der Elektrizitätskonzerne werden Camenisch und seine Komplizen verhaftet. Das Kantonsgericht Graubünden in Chur wertet die Sprengstoffanschläge als Gewaltdelikt, das vom Staat streng geahndet werde. Solidarität wird in Zürich, Bern und Basel via Flugblätter verbreitet: «Die Klassenjustiz schlägt zu!». Durch den Prozess wird Marco Camenisch, der Sprengstoffattentäter, zu einem «Che Guevara» der Zürcher Bewegung. Das Urteil: 10 Jahre. Camenisch gelingt es, aus der Justizvollzugsanstalt Pöschwies (Regensdorf) zu entkommen – er verschwindet im Untergrund.
Ein Jahrzehnt später wird in Brusio ein Grenzwächter erschossen. Camenisch wird in Italien aufgegriffen und schiesst bei der Verhaftung einem Polizisten in den Arm. Der Schweizer wird angeklagt und im Frühling 1993 «im Namen des italienischen Volkes» wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Sprengstoffanschlägen, illegalem Waffenbesitz, Fälschung und Hehlerei zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt.
2002 erfolgt die Auslieferung in die Schweiz. Die Zürcher Justizbehörden leiten (u. a.) Strafuntersuchungen wegen Mord an Grenzwächter Kurt Moser ein. Es folgt ein Indizienprozess, der Lücken aufweist. Urteil: Camenisch wird wegen Mordes verurteilt (Freispruch für anderen Vorwurf). Die verlesene Urteilsbegründung entspricht der Anklage, fällt beim Strafmass allerdings schärfer aus. Zwar forderte der Staatsanwalt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, ging aber davon aus, dass dem Angeklagten die in Italien verbüssten 12 Jahre angerechnet werden. Hätte Camenisch lebenslänglich erhalten, wäre er in etwas mehr als sieben Jahren – bei guter Führung und Prognose – freigekommen.
Doch mit den 17 Jahren Zusatzstrafe erhöht sich das Strafmass auf 29 Jahre. Das Schweizer Strafgesetz sieht eine Maximalstrafe von 20 Jahren vor. Zwei Jahre später weist das Bundesgericht die Vorinstanz an, das Strafmass zu reduzieren. In einem erneuten Prozess, 2007, wird das Strafmass von 17 auf 8 Jahre herabgesetzt.
Zukunft als freier Mann?
Im Mai 2012 hatte Camenisch zwei Drittel seiner Strafe verbüsst. Gemäss Schweizerischem Strafgesetzbuch (StGB) ist ein Gefangener dann bedingt in die Freiheit zu entlassen, sofern gute Führung vorliegt und davon ausgegangen werden kann, dass er nicht rückfällig wird. Die Zürcher Justiz verwehrt ihm die vorzeitige Entlassung wegen «anhaltender Gewaltbereitschaft». Eine Beschwerde des Anwalts wird zurückgewiesen; auch die nächste Instanz geht nicht darauf ein.
Seine komplette Strafe wird Marco Camenisch im Frühling 2018 abgesessen haben. Er wird dann 66 Jahre alt und seit seinem 30. Lebensjahr eingesperrt oder auf der Flucht gewesen sein. Fast 10 000 Tage und Nächte habe er dann hinter Gittern verbracht.
Wie wird es ihm nach seiner Entlassung ergehen? Wird er in unserer heutigen schnellen, noch kapitalistischeren, hochtechnologisierten Welt zurechtkommen?
Die Buchvernissage findet am Donnerstag, 16. April, um 20.00 Uhr im Theater Neumarkt in Zürich statt. Moderation: Stefanie Hablützel, Radio SRF. Aus dem Buch lesen: Yanna Rüger und Martin Butzke (Neumarkt-Ensemble).
- Kurt Brandenberger, «Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand», gebunden, 208 Seiten, 29 CHF, www.echtzeit.ch, April 2015
- Kurt Brandenberger, geb. 1948, aufgewachsen in Biel, war Redaktor und Reporter bei Tageszeitungen, beim Schweizer Fernsehen, bei «Das Magazin», «Die Weltwoche» und «Facts». Er ist Lehrbeauftragter an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW und am Bildungszentrum für Erwachsene BIZE.
Kommentare
Login oder Registrieren