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23. September 2009, 00:51 Music Interview

Interview mit Jochen Distelmeyer (Ex-Blumfeld)

Patrick Holenstein - Entspannt sitzt Jochen Distelmeyer in der Sonne auf der Terrasse der DRS-Radiostudios. Auf den ersten Blick wirkt er unauffällig, fast schüchtern, jedoch aufmerksam. Das zeigt sich besonders im Gespräch. Distelmeyer ist konzentriert, wählt seine Worte sehr genau und scheint d...

Entspannt sitzt Jochen Distelmeyer in der Sonne auf der Terrasse der DRS-Radiostudios. Auf den ersten Blick wirkt er unauffällig, fast schüchtern, jedoch aufmerksam. Das zeigt sich besonders im Gespräch. Distelmeyer ist konzentriert, wählt seine Worte sehr genau und scheint darauf zu achten, ob sein Gegenüber auch bei der Sache ist. Im Students-Interview erzählt der Ex-Blumfeld-Sänger wie persönlich sein Solodebüt „Heavy“ ist und geht auf einige Songs sowie die aktuelle Musikszene ein.

Du hast einmal gesagt, dass du dich älter fühlen würdest, als du bist. Wie ist das gemeint und wie siehst du das heute?

Heute fühl ich mich jünger als ich möglicherweise bin. Damals war es einfach so. Ich weiss nicht mehr genau, aus welcher Zeit das Zitat stammt, aber ich weiss, dass ich mich so Anfang, Mitte zwanzig irgendwie nicht wie Anfang, Mitte zwanzig gefühlt habe. Keine Ahnung wieso, aber jetzt ist es anders.

Wenn du deine Zeit bei Blumfeld mit der jetzigen Zeit als Solokünstler vergleichst, wo sind für dich die grössten Unterschiede?

In meinem Selbstverständnis als Künstler und Musiker und Mann. Das hat sich auf eine Art geändert.

Lass uns auf Heavy zu sprechen kommen. Wieso heisst die Platte schlicht Heavy?

Als mir der Name, der Begriff, so in den Sinn gekommen ist, fand ich’s einen tollen Ausdruck, eine tolle Klammer, für das, was auf der Platte an Stücken versammelt ist. Also sowohl die ganz offenkundig eher härteren Stücke bezeichnend als auch die vielleicht eher softer wirkenden Nummern, die aber trotzdem auf ihre Art ziemlich heavy sind. Und das es so was Leichtes hat, dass das Wort etwas Schweres meint, aber so leicht klingt und für mich etwas Himmlisches auch hat.

In Wohin mit dem Hass singst du über den Hass, der sich quer durch die sozialen Schichten zieht und über die Unfähigkeit, diesen Hass zu kanalisieren. Jedenfalls lässt der Text diese Interpretation zu. Was hasst du selber?

Ungerechtigkeit. Ich weiss nicht, ob hassen hier passt, aber da kann ich mich sehr darüber entrüsten.

Die Thematik von Hass ist sehr aktuell. Wie sehr spielt das aktuelle Zeitgeschehen für dich eine Rolle, wenn die Songs entstehen?

Ich bin ja Teil des aktuellen Zeitgeschehens als Mensch in meinem Leben. Alles, was mich umgibt, fliesst natürlich auf eine Art in die Stücke ein, die ich schreibe, wenn es mich beschäftigt oder berührt. Aber es war kein bewusstes Bezug-nehmenWollen auf gesellschaftliche Entwicklungen, sondern mir ging es primär um ein Nachspüren, dem Gefühl, das mir vertraut ist und von dem ich denke, dass es in der Luft liegt, nachzugehen und zu gucken, wie damit umzugehen sei.

Deine Texte sind allesamt poetisch und in ihrer Ganzheit wunderschön, lassen dabei aber auch viel Platz für Spekulation. In Nur mit dir singst du über eine vergangene Zeit, mit einer geliebten Person. Der Text könnte aber auch als Ode an die Zeit mit Blumfeld verstanden werden. Wie ist der Text gemeint?

Es ging nicht um die Zeit bei Blumfeld in dem Stück, da geht es schon um eine Person oder um Erfahrungen mit einer konkreten Person.

Ein Highlight der Platte ist Hiob. Du interpretierst darin die biblische Erzählung von Hiob auf deine eigene Weise. Wieso hast du dich für die Geschichte des Hiob entschieden, der ja unerschütterlich an Gott glaubt?

Ich hab mich nicht wirklich für die Geschichte entschieden, es war kein bewusstes „Ah, jetzt zieh ich mir das rein und mach einen Song drüber“, sondern mir ist eher aufgefallen, dass die Sachen, die quasi um mich herum passiert sind, die auch mir passiert sind, die aber, wenn man so will, auch gesellschaftspolitisch passiert sind, eben dass sich eine Hiobsbotschaft an die nächste reihte, und da passt es, dass ich eine andere Vorstellung von dieser Figur Hiob habe, als sie gemeinhin verstanden wird. Er ist für mich nicht jemand, der am Ende der Geschichte einknickt und vor Gott in die Knie geht, sondern es ist für mich eher jemand, der sich aufrecht stehend gegen die Ungerechtigkeit, die schicksalshaften Ungerechtigkeiten, zur Wehr setzt und letztendlich, in seinem Battle mit Gott, Gott zum Schweigen bringt.

Um einen Kontext, wie in Hiob hat, zu verstehen, braucht der Hörer gewisse Vorkenntnisse. In diesem Fall müsste man die Geschichte des Hiob kennen.

Muss man nicht wirklich, denn jeder verbindet ja mit dem Begriff Hiobsbotschaften zerplatzende Blasen und was weiss ich alles, man kann damit ja sehr viel verbinden. Man muss die Geschichte nicht kennen. Ich glaube, der Song beschreibt sich von selbst. Mein Anspruch ist es, dass Leute meine Musik, meine Songs, hören können, ohne irgendeine Vorkenntnis haben zu müssen.

Im letzten Song des Albums, Murmel, singst du: „Ich leb dafür und leb davon, doch am Ende ist es nur ein Song.“ Das klingt versöhnlich. Aus dem Zusammenhang gerissen könnte es auch ein Statement dazu sein, dass deine Texte gerne sehr genau interpretiert werden?

Dafür bin ich erstmal sehr dankbar. Das ist, finde ich, nicht gewöhnlich, das ist nicht normal und dafür ist es auf eine Art gemacht, sodass jede und jeder sich auf die eigene Weise damit auseinandersetzen kann, dass sie da was rausziehen können, was ihnen hilft oder für sie wichtig ist oder ihnen Spass macht. Das ist auf keinen Fall etwas, das ich ausschliesse oder ablehne, eher im Gegenteil, ich bin dafür sehr dankbar. Dann ist es aber so, dass es für mich bei dem Stück um etwas anderes geht. Mir ist Musik sehr, sehr wichtig und ich liebe es, Songs zu machen, aber es ist nicht das Leben. Das Leben muss man im Leben leben, nicht in Songs. So wie man seine Liebe leben muss.

Die Texte auf Heavy drehen sich um Hass, Liebe, Glauben oder Zusammenhalt. Alles Themen des Lebens. Wie sehr spiegelt die Platte dich persönlich wider?

Sie spiegelt mich total wider. Vielleicht nicht in allen Facetten, es ist halt eine von mehreren Platten, die ich gemacht habe und die ich machen werde, aber das bin schon ich, das sind Momentaufnahmen meiner Entwicklung, meiner Gefühlswelten, wenn man so will. Das bin ich.

Bist du ein produktiver Mensch? Wie leicht fällt es dir, Lieder und Texte zu schreiben?

Musik zu machen fällt mir sehr leicht. Texte zu schreiben fällt mir auch leicht, aber mich auf den Moment des Aufschreibens einzustimmen, das ist schwer zu erklären, ich lebe dafür. Ich setze mich nicht hin und fange an zu arbeiten, sondern meine Arbeit findet die ganze Zeit statt. Wenn ich morgens aufwache, fängt meine Musik bereits an und daraus schöpfe ich dann. Ich stimme mich auf diese Art von Leben, das Musikleben, ein und glaube daran, obwohl es dafür keine Beweise gibt und vieles an jüngsten Entwicklungen sogar eher dagegen spricht. Daran halte ich fest, das ist das, was mich bewegt und auch am Leben hält.

Du hast die Entwicklung der deutschen Musikszene seit der Neuen Deutschen Welle am eigenen Leib mitbekommen, warst und bist Teil davon. Wie beurteilst du die aktuelle Musiklandschaft?

Sehr vielfältig, aber manchmal ein bisschen ängstlich. Mir kommt es oft so vor, und das bezieht sich nicht einmal nur auf deutschsprachige Musikproduktionen, sondern auch auf englische oder amerikanische Sachen, dass vieles, gerade bei jüngeren Bands, von einem sehr hohen und professionellen Know-how und Talent getragen wird und das betrifft dann sowohl Kompositions-Arrangements als auch Produktions- und Stylingfragen. Was ich häufig vermisse, ist ein Vordringen zu dem, was ich für den Kern von Musik halte, da wo es für mich interessant wird. Dort, wo ich merke, da rührt jemand auf seine Art an – wenn man so will – existenziellen Fragen. Das finde ich manchmal schade und halte das für ein bisschen bequem und uncouragiert, aber ich kenne auch das Gefühl, dass ich denke, dass das eine sehr gesunde Art ist, sich Musik zu nähern. Eine sehr bewusste Art. Man denkt dann: „Nee, lieber nicht zu nahe ran“, denn was mit Menschen passiert, die in der Kunst, wenn man so will, gelebt haben, zeigt, dass der Preis, den man dafür zahlt, sehr, sehr hoch sein kann und etwas Monströses bekommen kann. Vielleicht ist die Art, wie zeitgenössische Bands oder Musiker und Musikerinnen damit umgehen, Ausdruck dieser Erfahrungswerte, dass das auch seine schlechten Seiten hat und dass man aufpassen muss.

Welche Bands/Musiker hörst du momentan?

Eigentlich alles, nicht nach Genres. Ich bilde mir ein, dass ich für mich Kriterien habe, ob das glaubwürdig ist, ob das entschieden ist, ob das Leute sind, die um die Problemstellungen, von denen ich vorhin gesprochen habe, wissen und es trotzdem tun und die auch bereit sind, sich dafür in Gefahr zu begeben und trotzdem daran glauben, dass Musik „a healing force of the universe“ ist.

Was steht in Zukunft an? Wird man dich auch in der Schweiz live sehen können?

Auf jeden Fall. Wie ich heute erfahren habe, nicht auf der November/Dezember-Tour, aber definitiv, wenn ich im Frühjahr auf Tour gehe. Aber wir werden mit Sicherheit in der Schweiz spielen, auch in Zürich, da lege ich sehr grossen Wert drauf.

Das Album "Heavy" erscheint am 25. September.

Infos: Jochens Homepage

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