Defamation @ Zurich Film Festival
Gregor Schenker - Der Dokumentarfilmer Yoav Shamir hat nach eigenen Worten als ein in Israel aufgewachsener Jude nie Antisemitismus aus erster Hand erfahren, macht sich aber aus Neugierde auf, herauszufinden, was genau es damit auf sich hat. So wendet er sich an die amerikanisch-jüdische Anti-Def...
Auch wenn Shamir von der Frage ausgeht, was Antisemitismus sei, so spielt dieser als solcher nur am Rande eine Rolle. Es gibt zwei, drei kurze Interviews, beispielsweise mit einem Taxifahrer oder mit einer Gruppe junger Schwarzer in New York, in denen Verschwörungstheorien und ähnliches hervorkommen, und er versucht, einigen Fällen nachzugehen. Im Zentrum steht aber die Perspektive jüdischer Menschen auf das Phänomen, wie diese Antisemitismus in der heutigen Zeit wahrnehmen und wie sehr sich ihr Eindruck teilweise unterscheidet.
Für die einen ist er allgegenwärtig (zum Beispiel auch in scheinbar berechtigter Kritik an Israel) und muss mit allen Mitteln bekämpft werden, um die Gefahr eines weiteren Genozides schon im Keim zu ersticken. Die israelischen Schüler scheinen als Folge solcher Sichtweise mit einer Lebensanschauung aufzuwachsen, in der die ganze Welt ihrem Land gegenüber feindlich gesonnen ist und überall Antisemiten hausen (so werden sie beispielsweise aus Angst vor Übergriffen strikte von der polnischen Bevölkerung ferngehalten). Dabei bleibt stets die Erinnerung an den Holocaust im Hinterkopf, der mehr als deutlich gezeigt hat, was im schlimmsten Falle passieren kann.
Auf der anderen Seite haben wir (ebenfalls jüdische) Leute, welche der ADL oder der israelischen Regierung vorwerfen, die Gefahr des Antisemitismus zu übertreiben, mit entsprechenden Vorwürfen Israelkritiker zum Schweigen zu bringen oder den Holocaust als politisches Druckmittel zu missbrauchen. Der Sprecher einer linken israelischen Organisation versteigt sich gar dazu, Antisemitismus zu einer blossen Erfindung zu erklären. Ressentiments gegenüber Juden werden da eher als Folge des Verhaltens des israelischen Staates gegenüber den Palästinensern verstanden.
Shamir konfrontiert immer wieder beide Blickwinkel miteinander, ohne sich letztlich endgültig auf eine Seite zu schlagen (wobei er dann doch ein wenig zu derjenigen der Kritiker tendiert und den starken Einfluss der Erinnerung an den Holocaust in Politik und Alltag hinterfragt). Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas und einigen sehr berührenden Szenen bleibt dabei auch der Humor nicht auf der Strecke, ab und zu verblüffen zudem ganz unerwartete Aussagen (so die Vorurteile Shamirs Grossmutter gegenüber ausländischen Juden oder Foxmans Geständnis, die Vorstellungen der Leute von der Macht der jüdischen Lobby auszunutzen, um zu wichtigen Politikern vorgelassen zu werden).
Alles in allem ist Defamation ein interessanter Einblick in die verschiedenen Sichtweisen jüdischer Menschen auf den Antisemitismus, regt zum Nachdenken an und berührt, ist aber immer auch sehr unterhaltsam. Man kann Yoav Shamir höchstens vorwerfen, keinen konsequent neutralen Standpunkt einzunehmen und die Frage nach konkretem Antisemitismus zu stark an den Rand zu drängen.
Aufführungen:
- 01. Oktober, 20:15, corso 4
- 02. Oktober, 15:30, corso 4
- 04. Oktober, 15:00, corso 4