no. 5 - big apples from the Big Apple
meng tian - Seit anfangs Mai bekomme ich immer wieder Besuch aus der Schweiz. Ein komisches Gefühl, plötzlich „Gastgeberin“ zu sein in einer Stadt, wo ich selbst erst seit kurzer Zeit bewohne. Aber um so mehr freut es mich natürlich zu entdecken, wieviele hübsche Plätzchen ich doch ...
Aber Freunde wären nicht Freunde, würden sie dich nicht mit ihren ureigenen Ideen auf abgefallene Aktionen bringen, die plötzlich einen komplett neuen Horizont eröffnen. So passierte es vorgestern, dass ich meine erste Walkingtour (geführt von einem waschechten Einheimischen) in New York ausgerechnet durch Harlem machte. Ich war überhaupt noch nie vorher in dieser Gegend. Nun ja, kein Wunder, nach so vielen Horrorgeschichten, die man vom Hörensagen mitbekommt, was alles in Harlem schon passiert sei mit Gangs, Schiessszenen oder anderen Kriminalitäten auf den Strassen.
Von all dem war aber keine Spur. Ganz im Gegenteil. Sei es nun die Sicht auf den Hudson River und New Jersey vom Riverbank State Park aus, die friedliche Stimmung in den aus „Townhouses“ bestehenden Wohnquartieren in Central Harlem östlich von Adam Clayton Powell Jr Boulevard oder die mit sowohl Läden wie auch legendären Musikorten wie das Apollo Theater bedeckte Hauptstrasse W 125th Street: Harlem ist jetzt nicht nur wohnbar, sondern auch wohnenswert. Man kann sich noch so viel über die Vor- und Nachteile der neusten Entwicklungen streiten; aber Fakt ist, dass die Nulltoleranz-Policy vom Altbürgermeister Rudolph Giuliani sichtliche Spuren hinterlassen hat.
Das Faszinierendste an dieser Walkingtour war aber etwas ganz Anderes, nämlich der einheimische Reiseführer. „Big Ed“, wie er sich vorgestellt hat, ist 83 (!) und mental wie auch physisch fit wie in den besten Jahren. Ein Jude aus der Bronx, der ungefähr jede Sprache spricht, die die Teilnehmer auf der Walkingtour mit sich bringen: Deutsch, Französisch, Spanisch und Dänisch (ok, Chinesisch konnte er nicht, aber er meinte, er hätte es noch vor zu lernen). Er beherrscht nicht nur die Sprache, sondern hat die jeweiligen Länder auch schon bereist. In der Schweiz kenne er sich besonders gut in St. Gallen aus. „Grüeziwohl“ hätte er immer gesagt auf den Strassen. All dies erzählt der Junggebliebene mit Witz, während er ständig sicherstellte, dass jeder von der Gruppe ins Gespräch einbezogen wird und sich wohl fühlt.
Irgendwann im Verlauf des Vormittags stellte es sich dann noch heraus, dass er ein erfolgreicher Immobilienmarkler war und seine Kinder ihrerseits wichtige Menschen in ihren Industrien. Und ach ja, sogar als Reiseführer hat er nun mittlerweile Karriere gemacht und machte letztes Jahr für einen australischen Sender eine TV-Sendung durch New York. Yep, mein Erstauen stieg und stieg. Früher denkt man sich so etwas aus oder glaubt, dass es nur in den Filmen existiert. Aber nun der lebendige Beweis: ein solches Leben ist tatsächlich möglich. Mit so vielen Anektoden und Abenteuern. Ja, ich hab mir gewünscht, dass ich, falls ich jemals so alt werde, genau so viel Geschichten auf Lager haben werde wie „Big Ed“.
New York lebt vor allem durch die Menschen, die diese Inseln bewohnen. Jemand wie „Big Ed“ wäre überall sonst auf der Welt der Vorzeigesenior par excellence mit einem mehr als spannenden Leben. Aber hier gehört er immer noch zu denen, die Träume hegen und noch mehr aus sich und ihrem Leben machen wollen. Unermüdlich. Jugendlich dynamisch. Voller Hoffnung und Elan. Nie aufgebend.
big apples from the Big Apple Reihe: Übersicht
Meng Tian im Web: Meng-tian.com
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