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9. August 2010, 00:00 Movie

Mademoiselle Chambon

Christina Ruloff - Im modernen Film wird ständig geredet. Die Handlung wird erzählt, Probleme werden zerredet, Gefühle verbalisiert, Enttäuschungen thematisiert. Und wenn alles gesagt ist, was es zu sagen gab, dann geht der Vorhang runter und der Film ist vorbei. Die Schauspieler brauchen ledig...

Im modernen Film wird ständig geredet. Die Handlung wird erzählt, Probleme werden zerredet, Gefühle verbalisiert, Enttäuschungen thematisiert. Und wenn alles gesagt ist, was es zu sagen gab, dann geht der Vorhang runter und der Film ist vorbei. Die Schauspieler brauchen lediglich den Text mehr oder weniger überzeugend herabzuleiern. In erster Linie werden sie ja ohnehin nach ihrem Aussehen ausgelesen. Von Vorteil ist gutes Aussehen, oder zumindest ein durchschnittliches Gesicht. Ein abgelebtes Gesicht kann immerhin noch für die sogenannt beste Freundin gebraucht werden, die bestenfalls einen Trostpreis gewinnt. Und eine hässliche Nase qualifiziert wenigstens für den Filmschurken. Man erkennt das Repertoire des modernen Films anhand von Äusserlichkeiten, anhand von offenbar coolen Berufsgattungen (Die Filmwelt wird fast ausschliesslich von Werbern, Ärzten, Anwälten und Polizisten bevölkert) und vor allem anhand der üblichen Versatzstücke, die im Laufe eines abendfüllenden Films geäussert werden.

Vincent Lindon passt in kein Schauspieler-Schema – er ist weder hübsch noch hässlich und schon gar nicht durchschnittlich. Das erstaunt nicht weiter, weil französische Filmheroen noch nie auf einer Schönheitskonkurrenz auch nur einen Trostpreis gewonnen hätten. Das spielt aber alles keine Rolle, weil Vincent Lindon schauspielern kann. Und man ist jedes Mal (zuletzt war er als zerrissener Schwimmlehrer in Welcome zu sehen) erstaunt, mit wie wenigen Worten oder gar Dialog der Mann auskommt, wenn es darum geht, dem Publikum seine Gefühlslage begreiflich zu machen.

In Mademoiselle Chambon spielt er den Maurer (!) Jean in einem französischen Provinznest (!), der sich plötzlich zu der Primarlehrerin (!) seines Sohnes hingezogen fühlt. Er ist anständiger Typ, der in seiner Freizeit mit seiner Familie UNO spielt und seinem Sohn etwas hilflos versucht begreiflich zu machen, was nun ein object direct ist (es ist eine der wenigen witzigen Szenen des Films – nicht weil Jean und seine Frau unbeholfen agieren, sondern weil das Schulbuch eindeutig von Leuten geschrieben worden ist, die sich nicht vorstellen können, dass es Menschen, vielleicht sogar Kinder gibt, die eben dank diesem Buch etwas lernen sollten). Und nun versteht Jean die Welt nicht mehr, weil er nur noch bei der fragilen, nicht mehr ganz jungen Frau sein will, die seinem Sohn die Grammatik beibringt. Wenn sie Geige spielt, dann hält für ihn die Zeit an. Natürlich ist das falsch. Das weiss er so gut wie sie. Er liebt doch seine Frau, seine Familie, sein Leben, so wie es ist. Und doch gäbe es offenbar viel, viel mehr – auch für ihn.

Im amerikanischen oder auch europäischen Problemfilm gäbe es einen besten Freund, mit dem der Konflikt analysiert würde. Zumindest müsste der alte Vater auch noch einen Teil seiner Lebensweisheit zum Besten geben. Und das betroffene Kind würde mit glasigen Augen dem Ende der Jugend entgegenbibbern. Hier ist Jean aber alleine mit seinen Widersprüchen, seinen Sehnsüchten und seinen Pflichten. Und selten hat man einen Charakter besser verstanden. Vincent Lindon liefert wieder einmal eine herausragende, schweigende Schauspielerleistung ab, und Regisseur Stephan Brizé (der sich wie schon in Je ne suis pas là pour être aimé dem Leben in der Provinz mit einem behutsam-beobachtenden Blick nähert) lässt ihm dafür alle Zeit der Welt. So kann Kino auch sein. Und so sollte es öfters sein!

Bewertung: 4 von 5

  • Titel: Mademoiselle Chambon
  • Land: Frankreich
  • Regie: Stephan Brizé
  • Darsteller: Vincent Lindon, Sandrine Kiberlain, Aure Atika
  • Verleih: Xenix Filmverleih
  • Release: 12. August 2010
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