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21. November 2010, 22:58 CD / Vinyl Music

Kanye West - My Beautiful Dark Twisted Fantasy

Oliver Kaftan - Ein Phoenix muss verbrennen, um aus seiner Asche neu zu erstehen – daran kann auch ein Kanye West nichts ändern. Dabei beginnt die vermeintliche Liebesgeschichte in Runaway (siehe Clip unten) verheissungsvoll: Nachdem der Phoenix (Selita Ebanks) sich auf der Erde manifestiert,...

Ein Phoenix muss verbrennen, um aus seiner Asche neu zu erstehen – daran kann auch ein Kanye West nichts ändern. Dabei beginnt die vermeintliche Liebesgeschichte in Runaway (siehe Clip unten) verheissungsvoll: Nachdem der Phoenix (Selita Ebanks) sich auf der Erde manifestiert, nimmt sich Kanye West seiner an, sozialisiert ihn im Eiltempo, um ihn seinen Verwandten bekannt zu machen. Es folgt das menschliche Drama: Kleinste Differenzen fallen auf, Homogenisierungsprozesse setzen ein, Diskriminierung beginnt. Wohl eher ein Glück, dass der bezaubernde Phoenix in seinem Schicksal gefangen ist und die dunklen Seiten des Menschen nicht länger zu ertragen hat: Statt wie manche seiner Artgenossen den irdischen Versuchungen nicht zu widerstehen und demzufolge als Statue zu enden, fügt er sich dem ewigen Kreislauf und entgleitet Kanye im Schlaf unbemerkt aus den Armen.

Dabei wird sehr bald deutlich, dass die musikalische Untermalung des Kurzfilms für weit mehr sorgt als für eine blosse Akzentuierung der Bilder. Die Melodien beginnen sich allmählich von diesen abzulösen und offenbaren ihre zauberhafte Kraft. Man ahnt es schon: "I'm bout to take it to another level" (Monster) soll sich mit My Beautiful Dark Twisted Fantasy bewahrheiten. Tatsächlich braucht es dazu Tapferkeit ("We found bravery in my bravado" in Dark Fantasy), aber natürlich auch Kreativität, die beide in Kanyes Kunstausübung unverkennbar zum Ausdruck kommen und sonst schmerzlichst in der Menge der sich gegenseitig imitierenden "Künstler" fehlen. Yeezy gehört zweifelsohne zu den besten Produzenten und bedarf keinerlei Mithilfe. So behält er sich auch verständlicherweise, mit wenigen Ausnahmen (Devil In A New Dress (produziert von Bink!), Power (mitproduziert von S1) und Dark Fantasy (mitproduziert RZA), das Vorherrschaftsrecht vor. Dies macht aber auch abgesehen von den vorhanden Fähigkeiten Sinn, wenn es doch darum geht, die eigene Fantasie zu offenbaren.

Ein Album als Produkt der Fantasie darzustellen, hat einleuchtende Vorteile: Grenzen lassen sich in jeglicher Hinsicht sprengen ohne Rechenschafft abgeben zu müssen. Gleichzeitig gibt Kanye dadurch aber auch tiefe Einblicke in seine Libido. So gesehen folgt also auf das "Rote Buch" von C.G. Jung das "Rote Album" von Kanye West. Darin treibt er es auf die Spitze (So Appalled) und bläst all die lächerlichen Regeln des HipHop und Pop weg, die er selbst vor einigen Jahren mitaufgestellt hat. Mit einem überragend lakonisch rappenden Jay-Z steht dabei der perfekte Mitspieler an seiner Seite, aber auch die wortgewandte Nicki Minaj fällt mit originellen Wortspielen wohlklingend auf und deutet an, weshalb sie die momentane weibliche Überfliegerin im "Game" ist.

Das Album wirkt zuweilen komplex, was aber konzeptuell nicht abwegig ist, denn Kanyes Unterbewusstsein bietet gewissermassen Nährboden für Grenzen sprengende Kreativität. Kein anderer Künstler wagt es, auf solch bizarre, ja gar wahnsinnige, Weise schauerhaften Funk (Gorgeous), beissende Ströme von Progressive-Rock (Power) und wunderbar paranoide Staccato-Streicher (Runaway) auf einem Album zu vereinen. Doch Wahnsinn und Genie liegen bekanntlich nahe beieinander und Kanye vermag es durchaus auch, mit der oft gepriesenen Einfachheit die Welt zu segnen, wovon vor allem der letztgenannte Song zeugt. Mit Elton Johns harmonischem Interlude zu All Of The Lights (feat. Rihanna), das den Abschluss der „Light-Triologie“ (nach Flashing Lights und Street Lights) darstellt, findet die aufgewühlte Seele nur kurz zur Ruhe, um dann von einer kraftvoll hymnenhaften Hookline überrollt zu werden. Die Titel drängen sich mit ihrer fast schon triebhaften Penetranz dermassen auf, dass es unmöglich scheint, sie ins Unterbewusste zu verdrängen und so entzieht sich der Hörer nur schwerlich der hypnotisierenden Wirkung.

"My Beautiful Dark Twisted Fantasy" ist aber mehr als eine Zusammenstellung von Fragmenten und auch schwer als solche hörbar; zu schnell könnte sich der Eindruck aufdrängen, Kanyes Libido münde in seinen Genitalien (etwa in Hell Of A Life), dabei ist sein Sexualtrieb ebenso Teil seiner Psyche wie sein Bedürfnis nach Romantik, das sich zartbitter in Blame Game offenbart. John Legend singt darin sehr natürlich zu einer mit leisen Drums unterlegten schlichten Piano-Melodie und erzeugt dadurch eine wunderbar verträumte und sentimentale Atmosphäre. Schliesslich findet der dynamische Aspekt von Kanyes Fantasie seinen Höhepunkt in Lost In The World (feat. Bon Iver), wo sich jegliche Widersprüche aufheben. Die allmähliche Progression des Titels mündet im Politik-Track Who Will Survive In America, in dem sich Kanye gewohnt sozialkritisch gibt (und nebenbei seine Sampling-Künste unnachahmbar vorführt). Davon zeugen auch Zeilen in Gorgeous ("And at the airport, they check all through my bag and tell me it’s random (…) I treat the cash like the government treats AIDS, I won’t be satisfied till all my niggas get it, get it?"), die seit N.W.A kaum mehr so stechend zu hören waren. Wo auch immer man die "My Beautiful Dark Twisted Fantasy"-Reise beginnt, die zugrundeliegenden elektronischen Akzente garantieren die Kohäsion in Kanyes Fantasie.

Das Album, ja gar jedes Teilstück davon, ist überragend und zur Perfektion fehlt so gut wie nichts. Doch obwohl Kanye nach der 808s & Heartbreak-Auto-Tune-Revolution auch mit "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" anderen Künstlern meilenweit voraus ist ("I'm living in the future, so the present is my past" in Monster), vermag er es nicht, sich von der Gegenwart loszulösen. Will heissen: Der Auftritt von Rick Ross in Devil In A New Dress ist ebenso wie die Auftritte Fergies (Black Eyed Peas) und RZAs (So Appalled), milde ausgedrückt, überflüssig. Wer wie Kanye West den Anspruch hat, ein Universalgenie zu sein, muss zeitlos leben ohne zu verhaften. Richtig, dass er nach Übermenschen und Entwicklung und nicht nach Nachahmung und Stagnation ruft (Dark Fantasy). Im Gegensatz zum Phoenix entzieht aber auch er sich dem ewigen Kreislauf, kann den irdischen Versuchungen nicht widerstehen und wird der Welt folglich "bloss" als Statue erhalten bleiben.

Kommentare
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ROHRER 03.12.2010 um 11:23
Sehr sehr feine Kritik!