Gurtenfestival 2016: Wenn Securitys hüpfen
students Redaktion - Rahel Inauen ist begeisterte Festivalgängerin. Nur auf den Gurten hat sie es noch nicht geschafft. Für Students hat sie sich in die Stimmung auf dem „Güscha“ fallen lassen. Ihre Eindrücke hat sie zusammengefasst.
Mein liebes Gurten-Tagebuch.Zugegeben: ich mache mir schon Gedanken, was mich dieses Wochenende erwarten wird. Wie sind wohl die Menschen, die sich da oben auf dem Gurten aufhalten? Muss ich meine Gummistiefel mit auf den Berner Hausberg nehmen? Es hat ja ganz schön geregnet die letzten Tage… Bezahle ich denn da cash oder wie läuft das? Welches Trämli nehme ich und wo bitte ist die Gurtenbahn? Das Einzige, was ich als St.Gallerin weiss, ist, dass das Line-up der absolute Hammer ist. Mit null Erwartungen mache ich mich also auf den Weg auf den «Güschä». Trämli gefunden, Gurtenbahn entdeckt und Bändel getauscht: Check. Aha, also kein Cashless hier oben. Schlamm gibt's auch keinen. Taschenkontrolle beim Medieneingang auch nicht. Jetzt beginne ich bereits, das Gurtenfestival mit dem St.Galler Openair zu vergleichen und muss schon sagen, dass mir das Gurten bereits am ersten Tag sympathisch ist. Hier sind nicht nur die Leute total gut drauf und freundlich, sogar die Securitas lachen einem ins Gesicht – der Wahnisnn!
Für ein besseres Morgen
Nach einem kurzen Besuch im Medienzelt geht's auf den Rundgang durch das Gelände: durch die Foodstrasse zur Zeltbühne, wieder hinunter durch den „Märit“ – welch witziges Wort – vorbei am Rock the Block, Casa Bacardi, Cardinal Bar, Jack Daniels, M-Budget Lounge und – oh Gott, euer Ernst? Ein Frauen-Pissoir? Naja, es scheint beliebt zu sein, da doch einige Frauen hinter der Wand verschwinden. Für mich geht’s weiter zur Waldbühne und rein in den VIP-Bereich. Am meisten beeindrucken mich gerade die Bodenplatten, die überall ausgelegt sind. Und mit „überall“ meine ich wirklich überall. Logisch gibt es keinen Schlamm hier oben, wenn die Wiese so gut abgedeckt ist. Kluges Köpfchen, wer auf diese Idee gekommen ist – die Besucher freut’s. Im ausserordentlich grossen und idyllischen Outdoor-VIP-Bereich mache ich es mir gemütlich und lasse die ersten Eindrücke wirken.
Nebenan auf der Waldbühne spielen gerade Les Touristes und die Musik passt hervorragend zu derzeitigen Gefühlslage: zufrieden, gelassen – ich bin angekommen. Schon sind wir eine kleine Gruppe aus Freunden und Kollegen. Gegen 15 Uhr machen wir uns dann langsam auf den Weg zur Mainstage, denn da eröffnen gleich Johnossi. Einige Besucherinnen und Besucher warten gespannt auf deren Show aber es ist leicht erkennbar, dass gerade mehr Menschen auf den Hausberg kommen und ins Gelände strömen, als Leute vor der Hauptbühne stehen. Die ersten Reihen singen und hüpfen fleissig mit und auch die Sonne lacht vom Himmel. Ich begleite befreundete Fotografen eine Stunde später zur Zeltbühne und bin ein bisschen schockiert, als Royal Republic anfangen zu singen bzw. zu schreien. Die Jungs aus Schweden reissen aber offensichtlich jeden Rocker im Zelt in den Bann, denn die Menge vor mir geht ganz schön ab und ja, jetzt lächle ich tatsächlich auch ein bisschen und bewege meine Beine.
Die Fotografencrew und ich ziehen weiter zum Mediencenter und geniessen um 19 Uhr das absolut gechillte Reggaekonzert von Gentleman & Ky-Mani Marley. Jedes Fleckchen auf der Wiese, jeder Bank, jeder Stuhl ist besetzt und tausende Blicke sind auf die beiden Männer und deren Band gerichtet. Während dem Konzert schweift mein Blick kurz zu den Securitys im Bühnengraben und ich kann’s kaum fassen, was da gerade passiert: die hüpfen! Sie klatschen! Sie singen! Sie lachen! Was für ein Anblick! Auch Gentleman bemerkt es und drückt seine Verwunderung aus. Ich glaube, er kann’s kaum glauben. Da kommt auch gleich seine Stellungnahme: „An Konzerten siehst du entweder die Securitas, die total mürrisch sind und keine Miene verziehen … und dann siehst du solche wie die hier – geil!“. Ja, wo er Recht hat, hat er Recht.
Die Securitas lachen und auch die Sonne lacht immer noch auf den Güsche herab. Nur Gentleman mit seiner darauffolgenden, unglaublich beeindruckenden Rede verleiht mir zu dieser Stunde noch Gänsehaut: mit hochgestreckter Hand, „Peace“-Zeichen, dem Ruf „for a better tomorrow“ und seinem letzten Song verabschiedet er sich von den Besucherinnen und Besuchern. Das Publikum reagiert, streckt die Hände mit „Peace“-Zeichen in die Höhe und ruft nach einer Zugabe. Da kommt er doch tatsächlich nochmals, performt weitere zwei Songs und verschwindet dann endgültig.
Mein Weg führt in die erste Reihe der Hauptbühne und somit an das Konzert von Passenger, der gerade seine Strassenkonzert-Tournee durch Europa beendet hat. Mit seiner Gitarre steht er auf der Bühne vor abertausenden Leuten und beginnt seine ruhige, fast schon magisch wirkende Show. Nach ein paar Minuten erklärt er, dass er hauptsächlich traurige Songs hat und er bittet das Publikum für diese Songs sehr leise zu sein. Ob ihm das gelingt? Tatsächlich; die Stille, die sich bei seinem Song „Riding to New York“ über dem Güsche breit macht, ist fast schon beängstigend. Ich geniesse es vollkommen und er scheint auch total zufrieden zu sein. „Danke Gurten, ihr seid der Wahnsinn!“, sagt er. „Jetzt brauche ich aber eure Hilfe. Bitte singt so laut ihr könnt und zwar immer dann, wenn ihr mit dem, was ich sage, einverstanden seid, okay?“. Ja, natürlich ist das okay und so stimmt er seinen Song „I hate“ an, in dem er über Dinge im Leben singt, die ihm total stinken. Das Publikum lacht ab seinen Witzen und singt lautstark mit. Seine neuen Songs kommen gut an, ebenso er selbst mit seiner herzlichen und dankbaren Art. Nicht einmal, dass er nach einem Gitarren-Breakdown ohne Instrument singen musste, scheint irgendjemand in der Menge zu stören. Auch Mike selbst nicht. Er widmet schliesslich einen Song den tragischen Geschehnissen, welche sich in den letzten Wochen auf der Welt ereignet haben und verabschiedet sich nach einer Zugabe mit hochgestrecktem Daumen von uns. Wer Passenger das erste Mal live gesehen hatte, dürfte wohl überrascht gewesen sein, was ein einziger Mann mit Gitarre bewirken kann. Ja, liebe Passenger’s und diejenigen, die noch welche werden: das hat er wirklich drauf.
So schnell wie möglich spurte ich ins Mediencenter zum Aufwärmen – wir sind bei 9 Grad angelangt und ich komme mir vor wie in der Antarktis, wenn ich mich im Medienbereich umschaue: Jacken bis zum Kinn hochgezogen, Mützen, lange Hosen und so verrückt es auch klingen mag: ich setze mich tatsächlich aufs Sofa und wärme meine eiskalten Hände am Rechaukerzli auf dem Tisch. Nach der gut einstündigen Pause geht‘s zur späten Stunde zu Kygo mit seinen Tropicalhouse-Party-Hits. Die Fans in den ersten Reihen sind bestimmt ziemlich enttäuscht, denn mehr als seine Hände bekommen sie während der ganzen Show nicht zu Gesicht. Kygo hat nämlich seinen DJ-Turm in weiter Höhe aufgebaut und liess sich nur für geschätzte zwei Minuten blicken – aber wahrscheinlich nicht für die Superfans in den ersten Reihen, sondern für das Foto, welches er kurze Zeit später auf Instagram postete. Trotzdem bewegte sich die Menschenmasse reichlich, Pyroshow hier, Rauch da und plötzlich fliegen riesengrosse Ballons über das Publikum. Die Stimmung war eingeheizt, Kygo wird gefeiert und für unsere Truppe ist das ein guter Abschluss für den Festivalfreitag. Mit der Gurtenbahn und Schlager-Sound ging’s wieder runter und ich freue mich jetzt schon auf den zweiten Tag auf diesem Hügel da oben.
Overjoyed mit Bastille
So, hier bin ich wieder – ausgeschlafen und munter. Das Wetter heute dürfte wohl noch besser werden, 25 Grad und Sonnenschein ist angesagt. Oben auf dem Berg erwartet mich bereits das Festivalgetümmel und ich fühle mich wieder mittendrin, statt nur dabei. Meine Fotografenfreunde führen mich aufs Neue zur Zeltbühne und ich warte die ersten drei Songs von Movits! ab, bis ich mich ihnen wieder anhänge und zurück ins Mediencenter folge. Unsere Nasen führen uns um 15.30 Uhr zur Hauptbühne für die Schweizer Kelly Family (wie ich mir sagen liess), 77 Bombay Street. Nach den ersten Songs mache ich mich dann aber wieder auf den Weg ins VIP-Zelt und geniesse das Ganze von der Distanz. Die Geschwister kommen bei Jung und Alt gut an, die Menge singt, klatscht, hüpft und es ist einfach nur herrlich dem Folk- / Indierock zuzuhören.
So, jetzt setze ich mich mal in die Sofalandschaft der VIP-Zone und lasse meine Seele baumeln. Echt gemütlich hier und lustig, die anderen teils gestressten Leute zu beobachten. Knapp eineinhalb Stunden später klingelt der Reminder der Gurten-App auf meinem Handy: Bastille auf der Hauptbühne – endlich! Nichts wie hin. Vorher noch kurz einen Kaffee und eine Aprikose im Mediencenter – an dieser Stelle danke dafür – und wieder raus in die Hitze. Meine Güte, wo kommen den diese Menschen her? Und wohin verschwinden sie, wenn das Konzert vorbei ist? Ich bin ein bisschen geflasht. Der Flash wird noch grösser, als die Jungs von Bastille die geniale Show abliefern.
Frontman Dan wagt sich sogar ins Publikum, singt und tanzt zum Song „Flaws“ in und mit der Menge. Ein richtiger Strahlemann. Er lässt sich von den vielen Handykameras, die ihm beinahe ins Gesicht gedrückt werden, nicht beirren, bahnt sich den weg quer durchs Publikum und klatscht die Leute in der ersten Reihe schliesslich lässig ab. Gänsehautmomente gibt’s bei den heissen Temperaturen trotzdem bei einzelnen Songs, wie zum Beispiel „Overjoyed“ oder auch „Pompeii“, bei dem die ganze Gurtenfamilie lautstark mitsingt und den Briten mit Gejubel verabschiedet. Ja, die Indierocker gehen ganz schön ans Herz. Ich prüfe nach Konzertende kurz das Programm und begebe mich schliesslich erneut zur Chill-Session und vor allem zum Aufwärmen ins VIP-Zelt bis Paul Kalkbrenner nach Mitternacht den Gurten in einen Tanzkessel verwandelt. Ich muss schon zugeben, für mich klingt alles gleich und seine Musik kann ich mir nicht unbedingt mehr als eine Stunde anhören. Er hat die geschätzt tausend Knöpfe vor sich aber definitiv im Griff – und bedient sie teils sogar einhändig, da in seiner anderen Hand pausenlos eine Zigarette flimmert.
Wie Kygo am Abend zuvor ist Paul Kalkbrenner der perfekte Act, die Hauptbühne ein letztes Mal an diesem Tag einzuheizen und die Besucherinnen und Besucher anschliessend der kalten Nacht auf dem Hausberg zu überlassen. Bis morgen denke ich mir, verlasse das Gelände und sause mit der absolut genialsten Bergbahn ever ins Tal hinunter. Ich bin immer noch begeistert von den Leuten hier: sogar die Gurtenbahn-Fahrer sind gut drauf, spielen sie doch tatsächlich Andreas Gabalier im Bähnli und lassen die Deckenbeleuchtung im Rhythmus flackern. Ihr seid ein tolles Volk, tschüssli!
Ich werde „äuä“ wieder kommen nächstes Jahr. Alles hat ein Ende – leider. „Ich möchte doch noch nicht nach Hause fahren heute?!?“ Diesen Satz höre ich schon relativ früh am Tag und glaubt mir: das will ich auch nicht. Lachende Festivalbesucher, heimelige Atmosphäre, glückliche Gesichter, kalte Getränke und gutes Essen. Ich bin am richtigen Ort. Am richtigen Ort werde ich heute definitiv an den Konzerten der „Triple J’s“ - John Newman, Jeremy Loops und James Bay – sein. Meine heutigen Highlights.
John Newman eröffnet seine Shows mit überaus bewundernswerten Dancemoves zum neu erschienenen Song „Give me your Love“. Er ermutigt das Publikum mit zu klatschen, zu singen und einfach mal „die Sau rauszulassen“. Einigen gelingt es sofort, andere brauchen wohl noch ein bisschen länger. Als er dann endlich seinen Song „Love me Again“ anstimmt, höre ich das Eis, welches jetzt auch bei den zurück haltenden Zuschauern gebrochen wurde, beinahe knacksen. „Wow hey, diese Stimme ist einfach der Wahnsinn“, denke ich mir und auch ich singe lautstark mit, als er einen weiteren bekannten Song, „Blame“, bringt. „Das tut er jetzt nicht wirklich?“, denke ich mir, als er bei seinem letzten Song Utensilien, Instrumente und Mikrofonständer auf den Boden schmeisst. „Doch, er tut es tatsächlich“. Tschüss John, schön warst du hier, denke ich ein bisschen verdutzt und speede hinter meiner Fotografenfreundin zur Zeltbühne, um den zweiten J im Bunde zu sehen: Jeremy Loops.
Nach seiner Show in Zürich und am vergangenen Kulturfestival in St.Gallen, welche ich beide verpasst habe, ist es heute höchste Eisenbahn, den Südafrikaner mit Schweizer Wurzeln live zu sehen. Er arbeitet gekonnt mit seiner Loopstation, verwendet seine Mundharmonika, seine Stimme, seine Gitarre und Ukulele und wird bei einzelnen Songs von Saxophonist, Rapper und Schlagzeuger begleitet. Als Jeremy Loops die Bühne betritt bin ich bereits im Banne der Loops-Anhänger. Seine Ausstrahlung, seine Art, mit dem Publikum umzugehen und seine Bühnenpräsent sind unglaublich. Wie schafft er das bloss? Als er fragt, wer seine Show das erste Mal sieht, gehen doch einige Hände in die Höhe und obwohl ihn die Mehrheit offensichtlich zum ersten Mal sieht, gehen die ganz schön ab – ich mittendrin.
Die lockere, fröhlich stimmende Musik des Singer Songwriters ist ansteckend und auch sein strahlendes Auftreten geht im Nu auf die Menschenmenge über. Speziell erwähnt Jeremy während seinem Gig seine Mutter, die extra aus Südafrika angereist ist. Da erscheint die Mama mal kurz auf dem Riesenbildschirm und erhält einen tosenden Applaus unter den Dächern der Zeltbühne. Meinen Blick wende ich wieder dem lässigen Typen mit Surferfrisur zu, lasse mich auf seine Musik ein, klatsche mit der Menge und geniesse eine der letzten Stunden auf dem Güsche. Kurz vor dem Ende seines Auftrittes mache ich mich dann aber aus dem Staub und begebe mich ein letztes Mal in die Menge vor der Hauptbühne, um dem dritten Monsieur der «Triple J’s» zuzuschauen.
So eng, wie das jetzt klingen mag, ist es aber gar nicht. Zwar ist der Brite vor allem bei den weiblichen Besucherinnen beliebt, jedoch ist es nicht so ein grosses Gedränge wie bei anderen Shows von ihm, die ich bisher miterleben durfte. Es ist ein emotionales, intensives Geniessen und ich habe in dieser Sekunde schon wieder einen Grund gefunden, warum mir die Berner einfach sympathisch sind. Eine Viertelstunde zu früh machte James unter seinem bekanntesten Song „Hold back the River“ einen Abgang, kam auch nicht wieder zurück für eine Zugabe und das Volk strömte wie aus einem Ameisenhaufen auseinander. Das Ende von Mister Bay’s Show bedeutet nun auch das Ende des Gurtenfestivals für mich. So gehe ich das letzte Mal in das Gebiet der Medienleute, verabschiede mich ein bisschen wehmütig vom Berner Hausberg und den netten Securitys und steige dann – ausnahmsweise bei Tag und ohne Schlagermusik - ins Gurtenbähnli.
Bis glii, schön war’s – und ungewohnt, so ganz ohne Gummistiefel.