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Etudes

Theaterpädagogik
ZHdK: Zürcher Hochschule der Künste

Vie amoureuse

Dans une relation

Der Wildemann

16.01.2008 à 18:42

Irgendwo auf der Erde, zwischen nirgendwo und überall, lebte einst im tiefen Wald ein Mann, der wurde als wildester aller wilden Männer verschrien. Die Menschen waren froh, dass dieser Wildemann so tief im Wald wohnte. Nur die Zwerge, Kobolde, Feen und Elfen hatten Mitleid mit ihm. Sie waren sich sicher, dass es immer einen Grund gibt, wenn jemand so wild und böse ist. Sie dachten, es läge an der traurigen Seele des Wildenmannes. Ob die Anderswelt Recht hatte, wisst ihr, wenn ihr euch diese Geschichte angehört habt.

Es ist ein schöner Frühlingstag. Die Sonne scheint so richtig warm. Die Vögel singen und die Tiere im Wald springen umher. Der Wildemann schläft tief und fest. Er tut dies meistens den ganzen Tag lang. Wehe dem, der ihn weckt; er erlebt, wie die Erde bebt! Der Wildemann würde wütend erwachen und wenn er sähe, welch herrlicher Tag heute wäre, würde er sich darüber gar nicht freuen. Er wäre zornig auf alle Lebewesen, die gerade im Wald umher springen.

Zum Glück ist sein Schlaf ziemlich tief. Die Geräusche aus seiner Nase klingen grässlich und Furcht erregend. Die Stimmung im Wald ist ausgelassen und entspannt.

Auch die Zwerge, Kobolde, Feen und Elfen zeigen sich wieder einmal und schnuppern Frühlingsluft! Da geschieht etwas sehr Sonderbares. Wie aus dem Nichts erscheint vor dem Haus des Wildenmannes ein kleines Mädchen, mit langen, blond gelockten Haaren und mit einem Sommerkleidchen an. Es lächelt still vor sich hin! Gerade will ihr ein kleiner Zwerg andeuten, nicht zu nahe an das Haus zu gehen und vor allem ganz leise zu sein, da fängt die Kleine an laut zu singen. Eigentlich ist es gar kein richtiges Lied, sondern nur wild aneinander gereimte Worte:

„Hasenfuss, Sonnengruss, Schneckenschleim, Spinnenbein, Bärentatze, Luftmatratze!“

Wegen diesem ungewöhnlichen Gesang wacht der Wildemann auf und brüllt bereits beim ersten Augenaufschlag: „Wer um meinen wildesten Willen hat den Mut mich zu wecken! Uahhh, zeig dich, wer auch immer du bist!“ Alle Tiere im Wald erschrecken fürchterlich, die Kobolde, Zwerge, Feen und Elfen verschwinden, die Vögel hören auf zu zwitschern und die Sonne versteckt sich hinter einer Wolke. Nur das kleine Mädchen singt laut, fröhlich und furchtlos weiter. Plötzlich macht der Wildemann die Türe auf und steht vor ihr.

„Wer bist du“ schreit der Wildemann das kleine Mädchen an! „Warum weckst du mich mit deinem lauten, unsinnigen Gesang! Was fällt dir nur ein!“

Das Mädchen hört auf zu singen und schaut mit ihren schönen blauen Augen den Wildenmann an und sagt verschmitzt: „Hallo, ich bin das wildeste Mädchen auf dieser Welt, mindestens sagen dies die Zwerge und die müssen es wissen!“ „Du und wild, dass ich nicht lache“, schreit der Wildemann! „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, so ein kleines Ding soll das wildeste Mädchen sein?“ „Und ob ich das bin“, sagt das Mädchen trotzig. Sie holt mit ihrem kleinen Bein aus und tritt den Wildenmann ins Schienbein.

„Aua, du Biest, was soll das, das tut weh!“ „Soll es auch“, lacht das Mädchen und hüpft vor Vergnügen umher, „du willst es so haben“, ruft es! „Ganz und gar nicht will ich es so haben! Zwar bin ich wild, tobe und brülle umher, doch habe ich bis heute noch nie einem Lebewesen wehgetan!“ „So? Kann sein. Doch verbreitest du mit deiner Art in den Seelen von vielen Lebewesen grosse Angst. Keiner mag dich, keiner versteht dich und vor allem erträgt dich keiner, weil du immer so wild, laut und unberechenbar umher brüllst“, antwortet das Mädchen. „Was du nicht sagst, du Frechdachs, was kümmern mich diese Lebewesen und was ist überhaupt eine Seele? Alles nur Geschwätz, dumm und blöd!“ Der Wildemann wird rot im Gesicht. Ganz ruhig und mit grossen Augen beobachtet das kleine Mädchen den Wildenmann. Je ruhiger das Mädchen wird, desto unruhiger, zorniger und böse wird der Wildemann. „Seele? Eine Seele gibt es nicht, alles Quatsch!“ „Dies meinst nur du“ sagt das Mädchen leise, „ich bin nämlich deine Seele, die dir vor langer, langer Zeit verloren ging, damals als du vergessen wolltest, dass du ein kleiner Junge warst, artig und lieb!“ „Ha ha ha! Ich habe noch nie etwas verloren in meinem Leben und ich war schon als kleiner Junge ebenso laut und wild. Erkläre mir mal, warum sollst du, kleines Mädchen, gerade meine Seele sein? Einen solchen Unsinn habe ich noch nie gehört!“ Das Mädchen schaut dem Wildenmann ganz ernst in die Augen: „Nichts ist einfacher, als dir dies zu erklären. Bevor deine Wildheit begann, warst du ein kleiner, süsser Junge, der es liebte mit Puppen zu spielen, der gerne Mädchenkleider anzog und der es vorzog, mit Mädchen zusammen zu sein. Deine Eltern fanden dies schrecklich und zwangen dich, ein typischer Junge zu werden. Dies brachte dich in diese unsagbare Wut.

Je älter du wurdest, desto mehr machte dich diese Welt, die nicht sehen wollte, was dir gefiel, wütend, wild und zornig! Bis du eines Tages nicht mehr wusstest, wer oder was du warst, was du gerne hättest, wovon du träumen könntest und für was du eigentlich leben wolltest.“

Noch als das Mädchen diese Worte spricht, merkt der Wildemann, wie sich eine grosse Träne in seinem Auge löst und langsam seine Wange hinabrollt. Wie lange schon habe ich nicht mehr geweint, denkt er. Sein Hals fühlt sich an, als drücke jemand fest darauf und in seinem Magen rumort es, als hätte er tagelang nichts gegessen. Und dann fängt er an zu weinen, zuerst ganz leise und dann immer mehr, bis es zum wildesten Weinen aller Zeiten wird. Auch das kleine Mädchen weint mit ihm. Nach einer unendlich langen Zeit der Trauer, sitzt der Wildemann am Boden und das kleine Mädchen ist verschwunden. Der Wildemann aber hat ein sonderbares Lächeln im Gesicht, das Lächeln des kleinen Mädchens.

Von diesem Tag an gibt es nur noch solche wilden Männer, die, obwohl sie manchmal laut brüllen oder wild umher stampfen, sanft und sehr verletzlich sind. Diese Männer leben und lieben überall auf der Welt. Der Wildemann aber ging fort, niemand weiss wohin. Doch ab und zu hören die Zwerge, Kobolde, Feen und Elfen ein lustiges Lied, dass eigentlich gar kein Lied ist, nur wild aneinander gereimte Worte:

„Hasenfuss, Sonnengruss, Schneckenschleim, Spinnenbein, Bärentatze, Luftmatratze!“

Commentaires
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etudiante 20.01.2008 à 23:07
Der Wildemann hat seinen weg gemacht. Schön, ihn hier wieder antreffen zu dürfen. Geläutert von der Boshaftigkeit, aber hoffentlich nicht zu sehr von seiner Wildheit. Genauso wie diese Geschichte – wild und versöhnlich zugleich. Es leben die wilden Hasenfüsse!