Modernes Märchen Folge 6. - Der Blick der schönen September
07.12.2010 à 00:51
Der Blick der schönen September
Sie war mädchenhaft. Ihr Rücken und ihre Schultern aber waren stark und sahen aus als hätten sie schon Schweres getragen. Etwas lies mich nicht los in dieser Nacht, seit ich sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen hatte. So wohltuend der weiche Klang ihrer Stimme auch war – es war etwas anderes: Ihr Blick hatte mich gefesselt. Ich hätte mich dagegen wehren können doch der Versuch wäre lächerlich gewesen und gewiss gescheitert. Den ganzen Weg durch die Waldlichtung und später, als wir ihr durch das eng verschlungene Geäst folgten, sah ich ihren Schritten nach und war ungeduldig. Ich wollte ihren Blick sehen.
Ich wollte ankommen.
Der Ort von dem sie erzählt hatte war nicht weit. Eine Weile verging während wir Holz für das Feuer gesammelt hatten und bis es brannte. Felix und ich warteten während September ihre Kräuter und das Obst zubereitet hatte und das Wasser zu kochen begann. Felix wechselte derweil einige Wörter mit ihr.
Ich, Felix und September bildeten bald ein Dreieck um das Feuer. Wir hatten gegessen und September hatte uns kleine violetfarbene Blütenblätter angeboten. Man tue sie unter die Zunge und sauge eine Weile ihren Saft. Dies sei hier brauch, wenn Halbmond ist, meinte sie. „Woher weisst du, dass Halbmond ist?“ fragte ich „der Mond ist verdeckt“ - „Ich habe die Tage gezählt.“
Während sie das sagte zierte der Blick einer Greisin ihr Gesicht und gleichzeitig stachen ihre graugrünen Augen ihre junge Schönheit tief in mein Herz. Einen Augenblick lang. Sonst blickte sie immer wieder ins Leere und blieb so als würde sie schon jahrhundertelang über etwas nachdenken. Dann lächelte sie wieder und kehrte zurück zu uns.
Mit der Zeit merkte ich wie ihr Blick trüber wurde. Wie trunken schwankte sie leicht auf ihrem Sitz.
Während Felix und September redeten und scheinbar tiefer in ein Gespräch eintauchten, dessen Inhalt ich nicht mehr mitbekam, wurde ich müde und legte mich hin - unweit dem Feuer, auf ein Tuch, das mir September zuvor hingelegt hatte.
Ich schlief ein und träumte:
In meinem Traum fand ich mich in der grossen Berghütte wieder, im 'Haus der Träumenden', aus dem Felix und ich gerade geflohen waren. Die Räume waren ganz leer. Ich lief durch den Hauptgang wie ich es oft getan hatte während meines Aufenthaltes. Jedoch hatte sich etwas verändert: So, wie das Bekannte uns in Träumen oft verzerrt und fremd erscheint; wenn auch nicht immer in der konkreten Anschauung, dann in der Stimmung, in der wir die uns vertraute Welt wie neu erleben. Jetzt war nicht nur die Stimmung, es waren auch buchstäblich die Bilder verändert. Die Bilder nämlich, die an den Wänden hingen, jene, an denen ich Tag für Tag vorbei gegangen war, waren andere.
Auf jedem der vielen Gemälde war September dargestellt mit ihrem feurig sinnenden Blick. Sie zeigten alle sie, sie zeigten mir September! Auf jedem von ihnen tauchte sie in einer anderen Gestalt auf, auf jedem von ihnen war sie eine andere. Hier konnte ich sie ansehen. Ich konnte sie jetzt anschauen, in ihre Augen blicken, ihre Schönheit kosten so lange ich wollte:
Auf einem der Bilder sah ich sie als junge Piratin portraitiert, mit einem langen dünnen Schwert in der rechten und einem Seemannshut in der linken Hand und kämpferisch mutigem Räubergrinsen auf den Lippen; mit grossen schwarzen Locken leicht verweht im Wind des Ozeans, der sich hinter ihr weit in die Ferne erstreckte.
Ich lief einige Schritte weiter und sah nach links und betrachtete ein anderes grosses, goldig gerahmtes Gemälde. Auch hier sah ich sie abgebildet. Diesmal als eine Art Hexe, als heidnische Kräutermischerin mit rotem Tuch auf dem Kopf, in ihrer linken Hand einen Strauch haltend. Sie atmete einen Dampf ein der aus der Erde kam. Ich sah ferner ein Bild worauf sie als Heilige dargestellt war mit weissem Leinentuch bekleidet und mich ansah mit einem Kind im Arm, das nicht das Jesuskind war.
Auf einem Gemälde in der Mitte des Raumes lag sie als indische Kurtisane vor einer riesigen Tafel voller köstlicher Speisen und Getränke und hielt dunkle Trauben in die Luft - hinter ihr eine weite Liege bedeckt mit allerlei kostbar bestrickten Stöffern und Kissen. Auf einem anderen grossen Bild sah ich sie als Dienerin des Pharao vor Hieroglyphen posieren mit dem Schlüssel der Maat in der Hand. Neben ihr Bastet, die ägyptische Katzengöttin, die September prüfend anblickte. Auf einem anderen Bild war sie eine orientalische Tänzerin und Hauptbraut des Padischah, auf einer grossen hellen Darstellung war sie die griechische Göttin Hekate.
Nachdem ich an vielerlei solchen Wandgemälden vorbeigegangen war kam ich am Ende des Ganges an. Neben der Treppe, die zum nächsten Stock führte und den zu betreten mir noch untersagt war, stand eine weisse marmorne Statue. Sie hatte nicht ganz die Grösse eines echten Menschen und war erst so weit ausgearbeitet, dass man die Züge einer jungen tanzenden Frau darin erkennen konnte. Das Gesicht jedoch war noch unvollendet. Sie stand auf einem kniehohen Sockel. Über diesem hatte jemand angefangen einen Buchstaben ein zu gravieren...
Als ich das unfertige Zeichen lesen wollte wachte ich auf und es war bereits hell geworden. Felix meinte, wir müssten aufbrechen. September war nicht da aber ihre Sachen lagen noch alle an ihrem Platz.
Einführung http://www.students.ch/community/user/blog/Bojangles/45189/Ein-modernes-Maerchen-Einfuehrung?ref=community-profile-blogteaser-title
Folge 1 http://www.students.ch/community/user/blog/Bojangles/45236/Ein-modernes-Maerchen-Folge-1-Aus-den-Tagebuechern-Ferdinand-Heinkes?ref=community-profile-blogteaser-title
Folge 2 http://www.students.ch/community/user/blog/Bojangles/45554/Ein-modernes-Maerchen-Folge-2-Figurenvorstellung-Fritz?ref=community-profile-blogteaser-title
Folge 3 http://www.students.ch/community/user/blog/Bojangles/46005/Ein-modernes-Maerchen-Folge-3-Ueber-die-Fluechtigen?ref=community-profile-blogteaser-title
Folge 4 http://www.students.ch/community/user/blog/Bojangles/46573/Modernes-Maerchen-Folge-4-Warum-wir-fluechten-wollen?ref=community-profile-blogteaser-title
Folge 5 http://www.students.ch/community/user/blog/Bojangles/47026/Modernes-Maerchen-5-Die-schoene-Stimmverstellerin?ref=community-profile-blogteaser-title
(Bild oben) John Collier: Das Orakel von Delphi, 1891
(Bild unten) William Blake: Hekate, 1795