Sehnsucht oder:Wo man nicht ist, dort ist das Glück
07.03.2008 à 08:34
Sehnsucht oder:Wo man nicht ist, dort ist das Glück
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Besetzung:AnsagerSprecherSprecherinZitator
Musik: Franz Schubert, Der Wanderer.
Zitator:Ich finde keinen sicheren Ort für meine Seele außer in Dir, o Gott, wo Du mein zerstreutes Leben sammelst. Du duldest nicht, dass sich irgendetwas von meinem Leben von Dir entfernt. Und manchmal erhebst Du meine Seele sogar zu Dir und versetzest mich so in ein unsägliches Glück, das mir hier auf Erden nie zuteil werden kann. Doch auch dieses Glück bei Dir bleibt solange getrübt, wie ich hier auf Erden lebe. Das Alltägliche zehrt mich auf. Schwer ist die Last des irdischen Lebens, weshalb ich sehr viel weine. Hier auf Erden darf ich zwar wohnen, will es aber nicht, dort bei Dir o Gott möchte ich gerne sein, kann es aber nicht. Unglücklich bin ich hier wie dort.
Sprecher:Der so spricht, wurde vor mehr als 1600 Jahren geboren: der Kirchenvater Aurelius Augustinus. Trotz der vergangenen Jahrhunderte klingt seine Klage sehr modern, sehr vertraut, formuliert sie doch ein Gefühl, das alle Menschen kennen:
AnsagerIn:„Sehnsucht oder: Wo man nicht ist, dort ist das Glück“, eine Sen¬dung von Franz Josef Wetz.
Sprecher:Hier – auf der Erde - kann ich leben, will es aber nicht, dort – im Himmel bei Gott – möchte ich leben, kann es aber nicht. Unglücklich bin ich auf der Erde, weil mir hier das Ersehnte fehlt, unglücklich bin ich im Himmel bei Gott, weil ich dort jetzt nur gedanklich verweilen kann. Der Kirchenvater Augustinus, der Paulus gleich erst nach einem liederlichen Lebenswandel zum christlichen Glauben fand, erlangte auch im Glauben nie die ersehnte Ruhe.
Zitator:Den Gottsuchenden erfüllt Schmerz, der Schmerz des Wandernden, den die Sehnsucht nach der Heimat und nach ihrem Schöpfer, seinem seligen Gott treibt. Der Heilige Geist erinnert uns Gläubige daran, dass wir Pilger sind und lehrt uns nach dem Vaterland verlangen, und eben dieses Verlangen ist es, in dem wir seufzen.
Sprecher:Der Gegensatz zwischen dem Leben auf der Erde, wo die Menschen unter Versuchungen und Beschwerden weilen, und dem versprochenen Himmelreich, das ein erfülltes, sorgloses Leben verheißt, ist charakteristisch für die christliche Lehre mit ihrem Versprechen von Erlösung, das einerseits durch Christus bereits eingelöst worden sei, andererseits als Errichtung einer von allem Leid erlösten Welt aber noch ausstehe. Hiernach sehnen sich die Menschen, wie Paulus im Hebräerbrief schreibt:
Zitator:Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.
Musik: Johannes Brahms, Deutsches Requiem, Denn wir haben hier keine bleibende Statt.
Sprecher:Gerade das Bild des Wanderers und Pilgers veranschaulicht den der Sehnsucht zugrunde liegenden Gegensatz zwischen dem Ort, an dem sich die Menschen aufhalten, und dem erstrebten Ziel, zu dem sie unterwegs sind. Der Christ ist als Wanderer zwischen den Welten in guter Hoffnung auf dem Wege.
Sprecherin:Diese auf die Zukunft und das Himmelreich ausgerichtete Sehn¬sucht bringt ein allgemeines Phänomen zum Ausdruck: Menschen leben oft nicht in Einklang mit sich selbst! Missklänge im Verhältnis zur eigenen Lebensgeschichte sind für sie keine Seltenheit. So bleiben in vielen Lebensgebäuden die Sehn¬suchtsfenster nach Geborgenheit und Abenteuer, Entspannung und Spannung, Sicherheit und Freiheit, Vollendung und Vollkommenheit ein Leben lang geöffnet. Groß ist das Verlangen vieler nach einem ganz anderen Leben, das sie bisweilen an ihrer unerfüllten Endlichkeit verzweifeln, an sich selbst leiden, gar einen Widerwillen gegen die eigene Existenz entwickeln lässt. Da entsteht, was zu Beginn des 19. Jahrhunderts Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Phänomenologie des Geistes unglückliches Bewusstsein nennt. Dieses gründet auf dem existenziellen Gegensatz zwischen gegenwärtigem Hier, an dem man sich gerade aufhält, aber nicht wohlfühlt, und einem nicht-gegenwärtigen Dort, das man ersehnt, aber nicht erreicht. Im unglücklichen Bewusstsein ist mit dem unerfüllten Hier immer schon auch die Sehnsucht nach dem unerreichten Dort gegeben, weshalb Hegel es das in sich entzweite Bewusstsein nennt, das Bewusstsein eines inneren Widerspruchs. Treffend beschreibt Hegel die für das unglückliche Bewusstsein charakteristische Sehnsucht als widersprechende Bewegung, in welcher das Eine in seinem entgegengesetzten Anderen nicht zur Ruhe kommt, sondern in ihm nur als Gegenteil sich neu hervorbringt. Es handelt sich um zwei sich gegenseitig ausschließenden Größen, die aufeinander bezogen werden. Der Sehnsüchtige existiert zwischen beiden Polen, indem er findet, was er nicht sucht, und sucht, was er nicht findet.
Sprecher:Während Hegel glaubt, diesen Zwiespalt des unglücklichen Be¬wusst¬seins in einer höheren Einheit aufheben zu können, erklärt der Existenzialist Jean-Paul Sartre im 20. Jahrhundert die unerfüllte Sehn¬sucht zur Grundstruktur des menschlichen Daseins, das niemals bei sich ankomme, um endlich Ruhe zu finden:
Zitator:Die menschliche Realität ist von Natur aus unglückliches Be¬wusstsein ohne mögliche Überschreitung des Unglückszustands. Der Mensch ist ein Drama.
Sprecherin:Wahrhafte Virtuosen der Sehnsucht, des unglücklichen Bewusst¬seins sind die Romantiker. Diese denken das ersehnte Ziel zunächst gesellschaftlich-revolutionär, dann naturphilosophisch und schließlich religiös-katholisch. In den Farben der Politik gesprochen, war ihre Gesinnung zuerst rot, anschließend grün und zuletzt schwarz. Dabei steigern die Romantiker die religiöse Sehnsucht, wie sie bereits Augustinus beschrieb, sogar aufs Äußerste - seien es Chateaubriand und Novalis oder die Gebrüder Schlegel, bei denen sich hier wie bei wohl den meisten Menschen Sehnsucht mit Melancholie vermischt:
Zitator:Die christliche Religion muss die Ahnung, die in allen gefühlvollen Her¬zen schlummert, zum deutlichen Bewusstsein wecken, dass wir nach einer hier unerreichbaren Glückseligkeit trachten, dass kein äußerer Gegenstand jemals unsre Seele ganz wird erfüllen können, dass aller Genuss eine flüchtige Täuschung ist. Und wenn nun die Seele, gleichsam unter den Trauerweiden der Verbannung ruhend, ihr Verlangen nach der fremd gewordenen Heimat ausatmet, was andres kann der Grundton ihrer Lieder sein als Schwermut.
Sprecher:So sehr sich mittlerweile die Moderne von der christlichen Glau¬bens¬¬tradition verabschiedet hat, das unglückliche Bewusstsein als Sehnsucht nach dem ganz Anderen ist geblieben. Es beherrscht geradezu alle gesellschaftskritischen Entwürfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung ebenso wie Theodor W. Adornos Philosophie des Nichtidentischen und Max Horkheimers Spätwerk, in dem ausdrücklich von Sehnsucht nach dem ganz Anderen die Rede ist. Doch hat ihre Sehnsucht weniger die Gestalt der Erwartung einer religiösen Erlösung. Vielmehr drückt sie ein schwermütiges Lebensgefühl aus, das sich mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abfinden möchte.
Sprecherin:Trotzdem gibt es über alles Trennende hinweg eine Gemeinsamkeit: Von Augustinus bis Horkheimer geht Sehnsucht in Richtung auf künf¬tiges Glück, das in der Gegenwart vermisst wird. Hier wie dort wird sie auf die Zukunft bezogen, von der man auch sonst im alltäglichen Leben die Erfüllung aller Wünsche erhofft.
Sprecher:Jedoch kann sich der gleiche Gegensatz zwischen unerfülltem Hier und unerreichter Erfüllung dort ebenso als rückwärts gewandte Sehnsucht äußern. Dann führt das unglückliche Bewusstsein nicht zur religiösen, politischen oder lebensgeschichtlichen Utopie, sondern verwandelt sich vielmehr in traurige Nostalgie. Alle Vorstellungen vom verlorenen Paradies, Naturzustand und Goldenen Zeitalter gehören hierher. In der Renaissance, Klassik, Romantik und im Deut¬schen Idealismus wurde oft eine Vergangenheit verklärt, die so wie dargestellt nie Gegenwart war. Novalis fasst diese Sehnsucht in die schönen Worte:
Zitator: Philosophie ist eigentlich Heimweh.
Sprecher:Mit Heimweh erfüllt, wird der Verlust ungebrochener Ganzheit und Ein¬heit beklagt, deren Rückkehr herbeigesehnt wird – sei es als Gar¬ten Eden, griechische Antike oder christliches Mittelalter. Wie häu¬fig wurde nach dem 18. Jahrhundert der Untergang des traditionellen Christentums betrauert. Die christlich gebändigte Sehnsucht nach Erlösung sei in der Moderne durch ein zielloses Umherirren des Menschen in der Welt abgelöst worden. Mag auch die religiöse Pilgerschaft am Ende sein, weil man sich keine falschen Hoffnungen mehr machen möchte, die Sehnsucht nach Einheit, Frieden und Ge¬bor¬genheit schwele weiter, weshalb manche bisweilen sogar wünschen, früher gelebt zu haben. Dann wären sie zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle gewesen.
Sprecherin:Allerdings bezieht sich dieses unglückliche Bewusstsein nicht bloß auf vergangene Epochen, sondern auch auf Etappen des eigenen Le¬bens – die Kindheit oder Jugend. Als nostalgische Rückbezüge set¬zen sie die Menschen in Gegensatz zu sich selbst. Statt im Hier und Jetzt zu leben, flieht man nun wehmütig in das Glück der Erinnerung – die gute alte Zeit.
Sprecher:Die einen verlegen also die ersehnte Einheit, Ruhe und Erfüllung in die zeitliche Dimension der Vergangenheit, andere in die Zukunft – und Dritte wiederum an einen fremden Ort gemäß einem Vers aus Georg Philipp Schmidts Gedicht Des Fremdlings Abendlied, das Franz Schubert in dem Stück Der Wanderer vertonte:
Zitator: Wo du nicht bist, dort ist das Glück.
Musikbeispiel: Franz Schubert, Der Wanderer.
Sprecher:Hier wird die ersehnte Einheit und Zufriedenheit genau dort ver¬mutet, wo man sich gerade nicht aufhält, wie es auch der französische Dichter Charles Baudelaire tut:
Zitator:Niemals bin ich glücklich da, wo ich bin, und ich glaube immer, dass ich glücklicher wäre, wo ich nicht bin.
Sprecher:Wohl auch deshalb halten es die Menschen häufig nicht zuhause aus und unternehmen, von Fernweh getrieben, mehr oder weniger große Reisen in sogenannte Urlaubsparadiese. Als unglückliches Bewusstsein in Gegensatz zum Hier und Jetzt stehend, suchen sie in der Kneipe um die Ecke oder auf fernen Südseeinseln, mit Sehnsucht nach Glück und Frieden erfüllt, was sie in den eigenen vier Wänden oder im alltäglichen Einerlei vermissen.
Sprecherin:Seit Platon, Lukrez und Seneca über Petrarca bis zu Hölderlin und Kleist wird das unstete Reisen durch die Welt als vergebliche Suche nach Einheit, Glück und Frieden entlarvt. Nie zuvor gekannte Ausmaße hat das Reisen in unserer mobilen Erlebnisgesellschaft gewonnen, das zwar sicherlich für viele eine große Lebensbereicherung und Gemütserfrischung bedeutet, aber als Suche nach dem wahren Glück scheitern muss, wie schon der Römer Lukrez erkannte, der Reisen als Flucht vor sich selbst beschrieb:
Zitator:Also suchet sich jeder zu fliehen: Umsonst! Denn er selbst ist es, dem er nimmer entfliehen kann.
Sprecherin:Hieran anknüpfend schrieb der altrömische Philosoph Seneca:
Zitator:Eine Reise um die andere wird unternommen, ein Schauspiel wech¬selt mit dem anderen, wie Lukrez sagt: Also flieht vor sich selbst be¬stän¬dig ein jeder.
Sprecher:Auch Johann Wolfgang von Goethe ergreift diese Sehnsucht nach fremden Orten, von denen er sich Glück, Spannung, Abenteuer genauso wie Frieden, Einheit und Harmonie erhofft. Wie viele Menschen heute zieht es ihn sehnsüchtig nach Italien:
Zitator:Kennst Du das Land, wo die Citronen blühn, im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, die Myrte still und hoch der Lorbeer steht. Kennst du es wohl? Dahin! Dahin möchte´ ich mit dir, oh mein Geliebter, ziehn.
Musikbeispiel: Hugo Wolf, Kennst Du das Land.
Sprecher:Insbesondere die Liebessehnsucht verbindet sich oftmals mit der Sehnsucht nach einem entfernten Ort, an dem sich der Geliebte aufhält. Hierzu noch einmal Goethe:
Zitator:Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide! Allein und abgetrennt von aller Freude, seh´ ich ans Firmament nach jener Seite. Ach! Der mich liebt und kennt, ist in der Weite. Es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!
Sprecherin:Von ruheloser Sehnsucht und unerfüllter Hoffnung getrieben, fliehen die Menschen mit ihren Gedanken entweder in die Zukunft oder die Vergangenheit oder an fremde Orte. Meistens bleibt dabei ihr Leben hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es erweist sich als Durchschnitts¬existenz, deren Sehnsucht nach großer Liebe, intensiven Erlebnissen, zeitlosem Glück und dauerhaftem Frieden unbefriedigt bleibt. Mit Heinrich von Kleist gesprochen:
Zitator:Das Schicksal spielt der Hand einen Zettel unter die Finger – es ist nicht das große Los, es ist keine Niete, es ist ein Los, wie es Tausende schon getroffen hat und Millionen noch treffen wird.
Sprecherin:Mit diesem Los gibt sich zufrieden, wer nicht darüber nachdenkt oder ahnt, dass alles hätte noch schlimmer kommen können. Die selig Dahinwelkenden mit schöngeistigen Seelen und blassen Körpern, wie Thomas Mann sie so eindrucksvoll beschreibt, sehnen sich zwar nach diesen Wonnen der Gewöhnlichkeit, dem Leben in seiner verführerischen Banalität, von dem sie ausgeschlossen bleiben. Den Durchschnittsmenschen aber fehlt im gewöhnlichen Alltag oftmals etwas zu ihrem Glück. Unendliche Wünsche lassen sich träu¬men, aber nur endlich viele verwirklichen. Je weiter der Lebensvollzug fortschreitet, umso weniger Möglichkeiten stehen noch offen; für manche Wünsche ist es irgendwann zu spät. Friedrich Schiller in dem Gedicht Resignation:
Zitator:Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder, mir hat er abgeblüht. Der stille Gott – o weinet meine Brüder – der stille Gott taucht meine Fackel nieder.
Sprecherin:Wehe dem, der die günstigen Gelegenheiten seines Daseins ver¬schläft und vor der offenen Wunde verpasster Lebenschancen steht mit der rückwärts gewandten Sehnsucht: Oh hätte ich doch nur gelebt! Hier treibt die Unumkehrbarkeit der eigenen Lebensgeschichte ihren quälenden Stachel schmerzhaft ins Bewusstsein. Dagegen darf sich glücklich preisen, wer seine bisherige Lebensgeschichte vor seinem inneren Auge vorüberziehen lassen kann, ohne von Reue geplagt oder falschen Hoffnungen irregeführt zu werden.
Sprecher:Aber nicht nur die eigenen Versäumnisse lassen die Versprechen des Lebens unerfüllt, widrige Umstände tun es auch. Zu alldem kommen irreale Sehnsüchte - etwa trotz hohen Alters wieder jung zu sein oder überhaupt ein anderer zu sein, als man ist. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard nennt dieses Nichtselbstseinwollen Krankheit zum Tode, was soviel wie Verzweiflung bedeutet. Menschen möchten bisweilen ganz anders, ja ganz andere sein, als sie sind – in körperlicher, gesellschaftlicher, geistiger oder charakterlicher Beziehung. Dann stehen sie im Gegensatz zu sich selbst und sind unglückliches Bewusstsein, das unzufrieden ist mit dem, was es ist, weil es gerne seine möchte, was es gerade nicht ist.
Sprecherin:Nicht zuletzt deshalb begeben sich heute zahlreiche Zeitgenossen auf Internetplattformen wie Second Life, um sich eigenen Vorstellungen gemäß in einer virtuellen Parallelwelt die gewünschte zweite Identität zu basteln. Second Life ist eine lebensechte, dreidimensionale, virtuelle Welt, die vollständig von ihren Bewohnern abhängt und fast genauso funktioniert wie die erste, reale Welt. Nur können die Menschen hier sonst unerfüllbare Wünsche zumindest teilweise ausleben. Dazu gehört die Möglichkeit zur Veränderung ihres Aussehens nach eigenen Wünschen, beispielsweise die Verwandlung einer übergewichtigen Büroangestellten in einen erfolgreichen, attraktiven Supervamp. Kierkegaard würde diese virtuelle Lebensform als Verzweiflung bezeichnen, weil sie den Einzelnen daran hindert, das wirkliche Leben zu leben, das unterdessen vergeht.
Sprecher:Sollten die eigenen Lebenswünsche aber doch einmal in Erfüllung gehen, bleiben viele Menschen trotzdem unzufrieden! Glückspilze sind nur selten glücklich, weil es auch ihnen häufig nicht möglich ist, in sorgloser Unbeschwertheit mit sich eins zu sein, in sich zu ruhen. Davon abgesehen gibt es kein Dauervergnügen ohne Genussverschleiß. Das Nachlassen der Erlebnisintensität – gewissermaßen der Lustverlust – ist geradezu unvermeidlich, weshalb bei vielen bereits im Moment der Erfüllung die Sehnsucht nach dem Neuen schon wieder beginnt. Philosophen sehen das ähnlich. Ernst Bloch spricht in diesem Zusammenhang von der Melancholie der Erfüllung und Michael Landmann von der Trauer des Gelingens. Hierunter kann dreierlei verstanden werden:
Sprecherin:Erstens führt eine dauerhafte Entlastung von physischen Zwängen und psychischen Qualen im Kampf ums Dasein und Glück schnell zu einer Langeweile der Sorglosigkeit, auf die sich Goethes bekannter Zweizeiler bezieht:
Zitator:Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schö¬nen Tagen.
Sprecherin:Zweitens gibt es ein unglückliches Bewusstsein auf dem Gipfel der Erfüllung, bekannt als postkoitale Tristesse, weil zum einen die Spannung nachlässt und sich ein Gefühl der Erschöpfung der gesamten Existenz bemächtigt – ob nach erlebnisintensiver Party, der Fertigstellung eines Buches oder der Erreichung eines sonstigen Lebensziels; zum anderen gründet das Gefühl der Leere trotz Glück der Erfüllung auf dem damit einhergehenden Verlust der angestrebten Ziele, weil diese erreicht wurden. Bekanntlich ist die Vorfreude auf der vorletzten Stufe oftmals größer als das Glück auf der letzten. Daher warnt der englische Schriftsteller George Bernhard Shaw mit Recht vor jeder Zielankunft:
Zitator:Im Leben gibt es zwei Tragödien. Die eine ist die Nichterfüllung ei¬nes Herzenswunsches. Die andere seine Erfüllung.
Sprecherin:Drittens gehört zur Erreichung der erstrebten Ziele manchmal die Enttäuschung, dass trotz intensiver Erlebnisse, Höhepunkte, Gipfelsiege und Rekorde doch immer noch etwas fehlt. Hierdurch entsteht das Missverständnis, man habe sich wohl in seinen Zielen getäuscht, sie teilweise verfehlt. Deshalb müsse noch weiter als bisher ge¬gangen werden. Doch das ist ein Irrtum, den unsere Einbildungskraft zu verantworten hat. Denn diese lässt den Einzelnen von einem Glück träumen, hinter dem die Wirklichkeit selbst dann zurückbleibt, wenn sie alle seine Träume erfüllt, was selten genug der Fall ist. Auf besonders eindrucksvolle Weise hat diesen Sachverhalt Thomas Mann in seiner Erzählung Enttäuschung dargestellt.
Sprecher:Hierin klagt der Ich-Erzähler, er sei ständig auf der Flucht vor dem Ba¬nalen, von dem er sich dauernd umstellt sehe, ohne ihm wirklich ent¬kommen zu können:
Zitator:Ich erwartete vom Leben das entzückend Schöne und das Grässliche, und eine Begierde nach alledem erfüllte mich, eine tiefe, angstvolle Sehnsucht nach der weiten Wirklichkeit, nach dem Erlebnis, gleichviel welcher Art. Aber als ich in das Leben hinein trat, voll von dieser Begierde nach einem, einem Erlebnis, das meinen großen Ahnungen entspräche - Gott helfe mir, es ist mir nicht zuteil geworden! Ich bin umhergeschweift, um die gepriesensten Gegenden der Erde zu besuchen, um vor die Kunstwerke hinzutreten, um welche die Menschheit mit den größten Wörtern tanzt; ich habe davor gestanden und mir gesagt: Es ist schön. Und doch: Schöner ist es nicht? Das ist das Ganze? Ist es nötig, dass ich auch von meinem Glück spreche? Denn auch das Glück habe ich erlebt, auch das Glück hat mich enttäuscht.
Sprecher:Wenn nun aber jemand das Gegenteil behaupte, dann solle man ihm keineswegs ohne weiteres glauben, meint Thomas Mann. Denn das sagten die Menschen häufig nur, um glücklich und beneidenswert zu erscheinen. Wie viele gebe es, die so eitel sind und so gierig nach der Hochachtung und dem heimlichen Neide der anderen, dass sie bloß vorgeben, die großen Wörter des Glücks erlebt zu haben.
Sprecherin:Der Dichter Gottfried Benn sah das ganz ähnlich, der den vom Schick¬sal begünstigten römischen Kaiser Septimus Severus gerne zi¬tiert, der, auf seinen erfolgreichen Lebensweg zurückblickend, gesagt haben soll:
Zitator:Ich bin alles gewesen, und es hat nichts geholfen.
Sprecherin:Wie es scheint, ist es unmöglich, alle Sehnsüchte zu stillen, das un¬glückliche Bewusstsein in ein dauerhaftes Glücksbewusstsein zu ver¬wandeln. Bisweilen ist es aber möglich, sich mit diesem Misslingen auf heitere, gelassene Weise zu arrangieren. Dann darf von Ge¬lingen im Misslingen gesprochen werden, was soviel heißt, wie mit dem Leben selbst dann noch auf heitere, gelassene Weise fertig zu werden, wenn sich dessen Gegensätze nicht zu einem harmonischen Ganzen runden.
Musik: Franz Schubert, Der Wanderer.
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