Mein Arbeitsweg
10.09.2006 à 10:34
Jeden Morgen stelle ich meinen Wecker so ein, dass er zweimal klingelt. einmal um 6 Uhr, damit ich so richtig agressiv werde, jetzt schon aufstehen zu müssen, und ein zweites Mal um halb sieben. Das verhindert ein agressives Aufstehen (es hätte schliesslich schlimmer sein können). Kaum aufgestanden, schwinge ich mich auf mein Bike, das neben der Kathedrale ein äusserst gottesfürchtiges Dasein fristet und jeweils nicht wirklich traurig ist, von mir aus der geweihten Umgebung entrissen und in Richtung Bahnhof entführt zu werden. Umso dankbarer bin ich jeweils, wenn es mich ohne grosse Ermüdungserscheinungen die Rue de Romont hochbringt, welche in ihrer Inklination zur Horizontalen nicht zu unterschätzen ist. Die schöne Aussicht auf die Basse Ville bleibt mir zu diesen frühen Morgenstunden jeweils verborgen - bin ich doch froh, wenn meine Augen sich genug weit zu öffnen entscheiden, um meinen Blick auf der Strasse und allfälligen gewalttätigen Kraftfahrzeuge zu halten.
Am Bahnhof überlasse ich das "Göppi" also wieder sich selbst (es soll ja nicht verwöhnt werden, nur korrekt behandelt) und ich begebe mich also ins Innere des Bahnhofsgebäudes. Dort hängt mein weiteres Vorgehen von der aktuellen Uhrzeit ab. meistens jedoch reicht es mir, mich im Mam's, einer exotischen (zumeist fernöstlichen) Variante des Pronto-Coop oder des Aperto, mit einem Volvic - Thé vert et menthe und einem croissant délice einzudecken. Während das Radfahren zuvor meine Müdigkeit aus den Augen gefegt hatte und den Schleier des Schlafes von mir gelöst hatte, ist dieses Mam's der Ort, wo meine morgenmuffelige Laune eine positive Wendung nimmt. Die überfreundlichen, Asiatischen (übrigens, um Missverständisse auszuräumen, das einzig fernöstliche des Ladens) Verkäuferinnen, insbesondere Lucy P. schaffen es Tag für tag, meine Mundwinkel anzuheben und mich bereit zu machen, mich ins soziale Tummelfeld des Perrons zu stürzen.
Die Zugfahrt ist Darwinismus pur: Survival of the fittest. Wer zuerst im Zug ist, erhält ein leeres Abteil, welches nun als Revier des Eroberers verteidigt werden muss, um es für sich alleine zu beanspruchen. Dabei sind verschiedene, unterschiedlich erfolgreiche Strategien zu erkennen.
Während sich das verteidigende Männchen zumeist ohne Scham quer über das ganze Viererabteil erstreckt und jeden Sitz mit mindestene einer Extremität abdeckt, verteilt das typische Weibchen - scheinbar zufällig, in Wirklichkeit jedoch minutiös geplant - ihre durchschnittlich 14 Gepäckstücke über das Abteil und vereinzelt auch im Gang. Letzteres ist insofern nicht zu empfehlen, da das Weibchen sonst eine längere Konversation mit dem Railway-Minibar-Servicefachangestellten (mit den übrigens süssen Hosenträgern) eingehen müsste. Neu aufgekommen ist übrigens auch die akustische Verteidigung seines Reviers. Das verteidigende Pärchen kann mit einer Lauten und gestenreichen konversation allfällige Eindringlinge einschüchtern und sich somit das Revier sichern. Ist der Revierbesetzer alleine, hilft ein MP3-Player mit agressiven Hochleistungskopfhörern und einer vorzüglicherweise absolut untolerierbaren Musik gegen Angriffe. Besonders zu Empfehlen ist dabei Trance oder House, da dies am Morgen garantiert niemand hören will.
Ich übrigens, bin ein eher angenehmer Reisegenosse, der sich morgens erstmal mithilfe der 20-Minuten bildet oder aber ein Buch hervorkramt, um 20 Seiten fortzuschreiten.
Im Berner Bahnhof ist das Menschengewimmel ein wunderschönes Anschauungsbeispiel der zwischenmenschlichen Organisation und Koordination. Während der Laie das Gewusel gerne mit dem Treiben in einem Termitenhügel vergleichen möchte, erkennt der Experte, dass der Unterschied zwischen den beiden Gattungen darin besteht, dass Termiten organisiert sind. Der Homo Sapiens dagegen hat sehr wohl ein Ziel, seine Hirnkapazität reicht jedoch nicht aus, sich einen konkreten Weg zum Ziel zu erarbeiten. Termiten stehen einander nicht auf die Füsse, halten nicht unvermittelt an und kehren um, weil sie kein Geld haben, laufen nicht ineinander herein und kaufen auch keinen Kaffee, um ihn fünf Sekunden später über der Bluse der Nachbartermite zu verschütten. So kämpft sich der Mensch also mittels einer unglaublich wacker zielstrebigen Planlosigkeit aus dem Untergrund des Bahnhofs Bern, um sich in den nächsten Kampf zu stürzen.
In meinem Fall ist dieser Kampf der 10er-Bus in Richtung Ostermundigen. In nun besseren Lichtverhältnissen und allmählich endgültig offenen Augen kann ich die Menschen nun besser erkennen und beginne mich für ihre Eigenheiten zu interessieren. Was mir letztens Eindruck gemacht hat, ist die Verwirrungsstrategie einiger Weibchen. Ich stehe also im Bus (Sitzplätze sind Glückssache) und sehe vor mir ein Prachtsweibchen. schlank, lange, wunderschöne Haare, perfekte Figur, nur hatte sie den Kopf von mir weg gerichtet. Als sie dann an der Station Schönburg ausstieg (wie die meisten Passagiere), bereute ich sämtliche vorher empfangenen Gedanken, denn ich konnte die junge Frau von vorne sehen. Und was mich da erwartete, war schlimm. die Dame war mindestens 35 Jahre alt und sah verdächtig nach Uschi-Glas-Hautcreme aus.
Auch die technischen Hilfsmittel der Geschäftsmänner überraschen mich immer wieder.
Das Sogenannte Kickboard ist der Renner unter den Fortbewegungsmitteln. Mann, 40, mit Anzug und Krawatte, ist täglich auf diesem Trottinett unterwegs und macht sich somit in den Augen vieler Frauen unwiderstehlich. Wer möchte schon nicht gerne mal auf einem Kickboard zur Arbeit mitgenommen werden? Oder darauf eine kleine Spritztour oder eine Fahrt ins Grüne, oder oder oder...
Ding. Haltestelle Galgenfeld. Ich steige aus und gehe noch die letzten Schritte bis zu meinem Arbeitsplatz. Räder habe ich dafür nun keine mehr, aber gerädert hat mich diese Reise dennoch jedes Mal bisher.
Ich danke Dir, dass Du mich auf meinem täglichen Arbeitsweg begleitet hast (es war heute etwas weniger langweilig als sonst) und wünsche Dir einen schönen Arbeitstag. Ach ja, bevor ichs vergesse: Morgen um die selbe Zeit wieder?