ist es denn nicht so?
21.03.2006 à 23:11
Wissen Sie, in gewissen Bereichen des Lebens bin ich relativ klarsichtig, was ich nicht zuletzt meinem Studium zu verdanken habe.
Ich bin zwar unfähig, eine Tür zu schreinern, ein Herd zu reparieren, Nahrungsmittel zu produzieren, und, wenn ich es mir genau überlege, bin ich eigentlich zu ziemlich allem unfähig, ausser zu einer gewissen Klarsichtigkeit in gewissen Belangen des Lebens.
Sehen Sie, geehrter Westeuropäer, glauben sie an Gott? Ich meine an einen Gott, wie ihn die radikalen, sich in die Luft sprengenden Muslime haben. Haben sie fixe und deutliche Gedanken einer Existenz nach dieser hier auf der Erde, in Gottes Paradies zum Beispiel, oder in der Hölle, was über ein Belohnungs- und Bestrafungssystem entschieden wird? Wahrscheinlich glauben Sie nicht an so was, oder?
Viel wahrscheinlicher ist es zumindest laut auf repräsentativen Umfragen beruhenden Statistiken, dass sie zwar irgendwie an etwas glauben, aber auch nicht so richtig sagen können, was dieses etwas genau ist – das kommt auch nicht darauf an, denn Sie glauben an dieses etwas vor allem deswegen, weil Sie sich so in tristen Momenten des Lebens sich nicht einfach damit begnügen müssen, irgendwann zu sterben, sondern sich an dieses etwas klammern können. Es ist ihr persönlicher Trost, der dann hilft, die Todes- und Vergehensangst zu vertreiben, wenn Sie die Bilanz ihres Lebens ziehen. Auf der deprimierenden Seite werden sie 80% Ihrer Zeit auf Erden haben, die sie mit arbeiten, lernen, im Stau stehen, Müll rausbringen, sich um senile Eltern kümmern und Ähnlichem verbracht haben – nicht gerade Dinge, die man um ihrer selbst Willen tut, oder? Naja, und die anderen 20%, was sind die? Ein paar romantische Gefühle bei einem Flirt mit einer Touristin, die im selben Hotel im vom Reiseveranstalter beschriebenen „Mittelmeerparadies“ wie Sie wohnt, und der dann nicht bereits an der Bar endet? Ein paar schöne Erinnerungen an Tage, an denen Sie (vor allem in der Pubertät, wo alles sowieso noch viel aufregender und vielversprechender war) etwas zum ersten Mal getan haben, zum Beispiel zum ersten Mal alleine in die Ferien fuhren, den ersten Joint rauchten, den ersten Zungenkuss kriegten?
Und eben, weil Ihnen die Bilanz berechtigterweise Angst vor dem Sterben macht, glauben Sie an eine „höhere Macht“, an „etwas Leitendes, Positives“. Natürlich stört es sie, im Gegensatz zum muslimischen Fanatiker, nicht, wenn der Nachbar nicht daran glaubt oder irgend etwas anderes, denn während jener an etwas Bestimmtes und Allgemeingültiges glaubt, ist es Ihnen eigentlich ganz egal, was es denn ist. Würden Sie nämlich ein bisschen ehrlicher zu sich selber sein, könnten sie aufhören zu sagen, „ich glaube an das und das“, und zugeben, dass sie einfach glauben, „dass es das hier auf Erden einfach noch nicht gewesen sein kann für mich“.
Allerdings haben Sie guten Grund, zu glauben, dass es das auf Erden wirklich war, denn, anders gefragt, haben Sie Gründe, ausser Ihrer persönlichen metaphysischen Misere, an „etwas Höheres“ oder was auch immer zu glauben? Sehen Sie, mir ist es auch schon passiert, dass ich kein Billet gelöst hatte, und der Kondukteur mir trotzdem keine Busse gegeben hat, oder dass ich an einem Konzert ein bisschen von einer kollektiven Euphorie erfasst wurde (gut, letzteres hat vielleicht auch mit meinem Drogenkonsum zu tun), aber daraus auf mehr zu schliessen als auf einen glücklichen Zufall, ist doch einfach lächerlich, oder? Denn sonst müsste man auch annehmen, dass, wenn der Kondukteur nicht so gnädig ist, die höhere Macht gerade ungünstig gestimmt war, dass man etwas getan hat, was ihr missfallen hat oder so was. Wenn man aber erst einmal angefangen hat, irgendwelche Bedeutungen in Handlungen und Zufälle hineinzulegen, tja, also dann kann kein Wasserglas mehr umkippen, kein Auto am Morgen nicht anspringen, niemand Sie auf eine bestimmte Weise anlächeln – oder auch nicht – ohne dass Sie gleich die tiefere Bedeutung rauskriegen müssten.
Wie gesagt, bin ich in gewissen Bereichen ziemlich klarsichtig. So sehe ich, wie ich eben dargelegt habe: 1) Es gibt keine einigermassen vernünftige Gründe, nicht zu glauben, dass die eigene Existenz über das Sterben hinaus weiter bestehen bleibt. 2) Es gibt keine einigermassen vernünftigen Gründe, nicht zu glauben, dass die Dinge, die während unserer irdischen Existenz geschehen, mehr oder weniger aufgrund von physikalischen Tatsachen, vielleicht einer Zufallskomponente und solchen Dingen, aber sicher nicht aufgrund einer Einflussnahme von höheren Mächten passieren. Daraus folgt: 3) Man muss annehmen, dass unsere Existenz endlich ist und nicht geleitet oder geführt ist. Das ist schockierender, als es klingt. Denn wenn sie nicht im Lotto gewinnen, werden sie einfach noch fünfzig Jahre, vielleicht aber auch sehr viel weniger lang, sich um ihre senilen Eltern kümmern, Müll rausbringen und ab und zu ihren Arbeitskollegen von einem Ferienflirt erzählen. Danach werden sie irgendwann endgültig und unwiderruflich sterben, ohne Chance darauf, dass sich ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen doch noch irgendwann oder erfüllen, und ohne die Zuversicht, dass ihr Sterben wenigstens irgendwie Sinn macht oder von einer höheren Macht gewollt ist.
Vielleicht werden Sie einwenden, dass das irdische Leben mehr zu bieten hat als vor allem Arbeit, Entbehrungen und Langeweile. Das stimmt, falls sie im Lotto gewonnen haben oder überdurchschnittlich schön, talentiert, und/oder reich sind. Dann hat das irdische Leben mehr zu bieten. In einer Welt, in denen es Leute gibt, die den halben Monat Teigwaren mit Tomatensauce essen, um ihre Leasingrate für ihren 3er BMW abstottern zu können, macht es Spass, einen Bentley Turbo R bar bezahlen zu können. In einer Welt, in der es Leute gibt, die nie, oder fast nie, Sex haben, fühlt es sich gut an, immer attraktive Verehrer(innen) zu haben, die sich Ihnen willig hingeben. In einer Welt, in der es Leute gibt, die selbst in den Ferien am Skilift oder am Frühstücksbuffet des Hotels sich in Warteschlangen einreihen müssen, ist es gut zu wissen, eine eigene Villa am Comersee zu besitzen, wie zum Beispiel George Clooney. Selbstverständlich stirbt man auch als Star, Talent, oder Schönheit, aber erstens kann man den Neid und die Bewunderung der grossen Masse auskosten, und zweitens kann man, wie man zum Beispiel an Winston Churchill sieht, mit Talent in der Welt sogar etwas bewirken, sie ein bisschen nach seinem Geschmack umformen.
Aber eben, ich bin weder George Clooney noch Winston Churchill – Sie vielleicht? Das heisst, dass wir irgendwann sterben, nach einem langen, mehr oder weniger harten täglichen Kampf um Arbeit, Anerkennung, und schlussendlich nur noch ums Überleben, den wir sowieso verlieren werden.
Ich kann nachts oft nicht schlafen, ja, ich bin so konsequent; dieser vergebliche und mühevolle Kampf könnte doch so einschneidend und einfach verkürzt werden. Schon mehr als einmal bin ich nachts im Haus herumgegangen, ziellos, ging in die Küche, um etwas zu essen, obwohl ich keinen Hunger hatte, danach ins Badezimmer, wo ich mein durchschnittliches, müdes und hoffnungsloses Gesicht im Spiegel sah, durch die helle Badezimmerlampe noch blasser als sonst, aber zuletzt kam ich immer beim Wandschrank im Gang an, wo mein Sturmgewehr versorgt ist.
Ja, der Kampf liesse sich verkürzen, sehr sogar. Eine 5,6mm Kugel verlässt mit über 900 Metern in der Sekunde den Lauf, und verursacht dadurch in weichen Zielen einen tödlichen Schock. Es wäre spielend leicht, man müsste nur diese Konservendose mit der Munition drin öffnen, das Gewehr laden, den Mund öffnen, und sich mit seinem Gewicht auf den Abzug lehnen. Das Gewehr bietet auch die Möglichkeit, Seriefeuer abzugeben, man muss dazu nur einen kleinen Hebel von „1“ auf „20“ umlegen. In diesem Falle schiessen 20 Kugeln mit einer Kadenz von 600 Schuss pro Minute aus dem Lauf, und wenn man sich den Lauf in den Mund hält, hätte der letzte Schuss die Waffe noch nicht verlassen, während schon jede neuronale Verbindung im Gehirn, die so was wie Schmerz auslösen kann, oder Basis für ein Bewusstsein ist, das sich „ich sterbe“ bewusst ist, oder „hätte ich es doch nicht getan“... vollständig zerstört wäre.
Sie fragen sich jetzt sicher, wieso ich es nicht längst getan habe, denn wie Sie sehen, ist es keine grosse Sache... Tja, ich weiss es auch nicht so genau, ob es Feigheit ist, oder doch die natürlich unbegründete Hoffung irgendwo in einem Teil von mir, doch im Lotto zu gewinnen und nicht zur grossen Menge zu gehören, die sinnlos lebt und sinnlos stirbt... Ich weiss es nicht.
Aber eben, schlafen kann ich oft nicht, und wenn ich dann den Kasten wieder schliesse, in dem das Gewehr ist, und mich wieder zu Bett lege, muss ich mir irgend etwas Beruhigendes denken, um nicht mein Bettzeug voll zu schwitzen und vielleicht noch ein paar Stunden Schlaf zu kriegen.
Ich stelle mir dann vor, dass ich in einem Glaswürfel mit der Grundfläche von vielleicht 30 m2 bin, der durch das Universum fliegt. Ich kann auf alle Seiten die an mir vorbeiziehenden Sterne und Milchstrassen und Sonnen sehen, während ich auf meinem Bett liege. In dem Glaswürfel hat es ein Gerät, dass den Würfel mit Atemluft versorgt, und eines, in welches ich eingeben kann, was ich essen und trinken möchte, worauf ich dann das Gewünschte durch eine Klappe herausnehmen kann (ich weiss, dass das dem Materieerhaltungsgesetz widerspricht, aber nachts, alleine im Bett, ist mir das egal). Natürlich gibt es auch eine Toilette und eine Dusche in dem Raum, und in einer Ecke stehen noch ein Laufband und ein paar Hanteln. Ansonsten ist der Würfel, ausser einer kleinen Katze, leer.
Wenn ich erwache (ich weiss ja nicht, wann es Morgen ist und wann Abend, es gibt keine Tageszeiten auf dem Flug durchs Universum), kann ich etwas essen, auf die Toilette gehen, und, wenn ich nervös bin, auf dem Laufbahn so lange laufen und mich körperlich betätigen, bis ich erschöpft bin. Sonst liege ich den ganzen Tag auf dem Bett und sehe den Sternen zu, wie sie vorbeiziehen. Die Katze liegt auf meinem Bauch, und ihr Schnurren ist das einzige Vernehmbare. Und so liege ich für immer auf dem Bett, denn ich bin unsterblich. Und weil ich alle Bedürfnisse, die zu befriedigen ich die Möglichkeit habe, auch sofort und ohne Anstrengung befriedigen kann, und das die einzigen Bedürfnisse sind, die ich habe, will ich nichts mehr; ich bin in einem Zustand vollkommener Willenlosigkeit und Gleichgültigkeit, ohne jedes Leiden und ohne jede Lust...
Eine friedlichere Vorstellung als diese habe ich nicht, und wahrscheinlich ist sie dem Tod nicht einmal sehr unähnlich. Wenn ich auf dem Bett die Augen schliesse, und das Schnurren der Katze ignoriere, nehme ich nur noch den Druck meines Körpers auf die Matratze wahr. Diesen zu ignorieren, ist zwar schwierig, aber nehmen wir an, es gelänge mir, wäre da nur noch mein Bewusstsein, dem irgendwie bewusst ist, dass es vorhanden ist, und dass es gerade Betrachtungen über sich selbst anstellt. Könnte man sein Bewusstsein auch ignorieren, so hätte man den Zustand des Todes erreicht.
Wir werden alle sterben, irgendwann bald.